Selbstbestimmung und Atemhilfen Adolf Ratzka Münchner ausserklinischer Intensiv Kongress 8-9 November 2013

 

Impulsreferat von Adolf Ratzka, PhD, Independent Living Institute, Stockholm
6. MAIK Münchner ausserklinischer Intensiv Kongress 8-9 November 2013

Herzlichen Dank  für die Einladung. München ist immer noch wichtig für mich. Hier hat mein Leben mit Behinderung angefangen. Hier, im Jahre 1988, fand auch der erste Kongress über Unterbeatmung im deutschsprachigem Raum statt, an dem ich Tagungsvorsitzender war. Für meine Frau und mich ein wichtiges Ereignis, weil wir im Anschluss an die Tagung, unsere Hochzeit im Englischen Garten feierten.

Wie Sie bemerken werden, erschwert mir meine Atembehinderung das Sprechen. Während ich spreche, kann ich nicht gleichzeitig Luft durch meinen Schlauch bekommen. Ich muss also selber atmen. Je länger ich spreche, desto grösser wird das Sauerstoffdefizit. Die Symptome sind schluddrige Aussprache, rote Backen, nachlassendes Gedächtnis und ein Gehirn zähflüssig wie Sirup. Sie sehen, auf Sauerstoffmangel kann man viel schieben.

Kurz etwas zu meiner Person: Ich bin in Manching bei Ingolstadt aufgewachsen, erkrankte im Jahre 1961 als 17-Jähriger an Polio, verbrachte 5 Jahre im Krankenhaus hier in München, studierte anschliessend 7 Jahre in Los Angeles und wohne und arbeite seit 40 Jahren in Stockholm, wo ich mit Frau und Tochter lebe.  

Wenn ich heute auf meine über 50 Jahre mit meiner Behinderung zurückblicke, sehe ich mehrere  Entwicklungen, die mir ermöglichten, draussen in der Gesellschaft selbstbestimmt zu leben statt in einer Einrichtung fremdbestimmt vor mich hinzudämmern.

Technische Fortschritte bei den Atemhilfen

 Das waren zunächst meine Beatmungshilfen - Eiserne Lunge, Schaukelbett, Kürass, und schliesslich Nasenmaske nachts und Schlauch zwischen den Zähnen tagsüber. Jeder Schritt in dieser Entwicklung brachte mir mehr Freiheitsgrade und ermöglichte mir, meine mit den Jahren zunehmende Ateminsuffizienz zu kompensieren. Mit der Eisernen Lunge oder dem Schaukelbett, zum Beispiel, kann man eigentlich nur in einer Einrichtung leben. Um also 1966 zum Studium von der Krankenhausstation in München ins Studentenwohnheim in Los Angeles zu ziehen, musste ich erst vom Schaukelbett auf den Kürass umsatteln. In den 80-Jahren, als die ersten kleinen Überdruckgeräte auf dem Markt kamen, konnte ich nachts selbstgebaute Nasenmasken benutzen und mich später auch tagsüber von meinem Schlauch zwischen den Zähnen beatmen lassen. Damit wurde ich vom Stromnetz unabhängig.

Abwicklung der Heime durch das persönliche Assistenzbudget

 Verbesserte Atemhilfen allein hätten aber nicht gereicht, mir ein Leben ausserhalb von Einrichtungen zu ermöglichen. Ich lebte im Alter von 17 bis 22 jahren im Krankenhaus, weil es damals keine barrierenfreien Wohnungen und keine persönliche Assistenz gab und vor allem, weil man Menschen wie mich für so krank hielt, dass man sie sich nur in einer Einrichtung vorstellen konnte. Im Studentenwohnheim in Los Angeles waren es Kommilitonen in Jeans, die für mich arbeiteten, statt Krankenschwestern in weisser Uniform. Dort war ich nicht mehr Patient und damit zuunterst in der Hierarchie des Krankenhauses. Ich war der Chef, der seine Assistenten anstellte, ausbildete und bezahlte. Meine Behinderung war unverändert, aber die Geldern des Bezirks Oberbayern, mit denen ich meine Assistenten anstellte, hatten meine Voraussetzungen zu einem selbstbestimmten Leben dramatisch und schlagartig verbessert.

Das Thema des Kongresses ist Selbstbestimmung – nicht die absolute Selbstbestimmung, die hat niemand, der mit anderen Menschen zusammenleben will. Sondern es geht hier um den Grad an Selbstbestimmung im Alltag und im Leben, den unsere nichtbehinderten Geschwister, Freunde und Nachbarn als selbstverständlich ansehen. Um auch unserer Gruppe die Voraussetzungen zur Selbstbestimmung zu geben, muss noch einiges geändert werden.

Heime und Einrichtungen müssen abgeschafft werden. In Heimen und Einrichtungen ist es unmöglich selbstbestimmt zu leben, weil man nicht wählen kann, wo man wohnt, wie, mit wem; von wem man sich helfen lässt; weil man vom Personaldienstplan abhängig ist und daher nicht kommen und gehen, tun und lassen kann wie man will.

Die Forderung nach Abschaffung von Einrichtungen und Heimen ist nicht besonders radikal, ist sie doch Teil der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. Dort steht im Artikel 19, dass es unser Recht ist, in der Gesellschaft zu leben, Wohnort und Wohnform zu wählen, zu entscheiden, mit wem wir leben – all dies mit den gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere, ohne in eine besondere Wohnform durch den Mangel an Alternativen gezwungen zu werden. Die Behindertenrechts-konvention wurde von der Bundesrepublik ratifiziert und ist somit Teil der deutschen Gesetzgebung.

Sind Wohngruppen und Wohngemeinschaften auch Einrichtungen, die abgeschafft werden müssen? Artikel 19 geht nicht auf die Grösse der Einrichtungen ein. Was zählt ist nicht die Anzahl der Betten oder Bewohner oder ob eine Mauer das Gelände umgibt. Was zählt ist die Wahlfreiheit: haben wir die gleichen Möglichkeiten wie unsere nichtbehinderten Geschwister, Freunde und Nachbarn wenn es um die Wahl des Wohnorts, der Wohnform und der Mitbewohner geht? Haben wir die gleiche Wahlfreiheit bei Beschäftigungs- und Freizeitsmöglichkeiten, die unseren persönlichen Voraussetzungen und Präferenzen entsprechen?.

Deutschland ist immer noch das gelobte Land der öffentlich geförderten Heimindustrie. An der Humboldt Universität in Berlin schätzt man, dass derzeit ca. 70% der "Hilfe zur Pflege" und ca. 93% der "Eingliederungshilfe" in den stationären Bereich fliessen –  entgegen der Behinderten-rechtskonvention. Um Einrichtungen, ob gross oder klein, abzuwickeln, müssen die jetzigen Gelder so umgesteuert werden, dass der Einzelne über ein persönliches Budget verfügt. Damit können wir überall unabhängig von Wohnsitz, Wohnform, mit oder ohne Familie die Dienst-leistungen kaufen, die wir für unsere alltäglichen Hilfen benötigen. Um uns die Voraussetzungen zur grösstmöglichen Selbstbestimmung zu gewährleisten, muss dieses Assistenzbudget

  • den vollen persönlichen Assistenzbedarf quantitativ und qualitativ abdecken
  • für die gesamten Kosten einschliesslich marktgerechter Gehälter, sozialer Abgaben, Versicherungen, Verwaltungskosten und Unkosten aufkommen
  • einkommens- und vermögensunabhängig geleistet werden

Diese Forderungen sind Teil eines Gesetzesentwurfs zur sozialen Teilhabe, der vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen in Zusammenarbeit mit der Interessevertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland ausgearbeitet wurde. Dass diese Forderungen realistisch sind, zeigt das Beispiel Schwedens, wo man, abgesehen von Wohngruppen, keine stationären Einrichtungen mehr  benötigt. Seit 1994 beziehen Menschen mit umfassenden Assistenzbedarf in Schweden ein persönliches Budget, das die oben genannten Forderungen verwirklicht.

Wir brauchen Verbündete

Wir sind Zeugen einer zunehmenden Spezialisierung und Professionalisierung in allen Bereichen einschliesslich der Heimbeatmung. Dadurch droht die Gefahr, dass wir als Betroffene immer weniger bei wichtigen Entscheidungen zu sagen haben, dass medizinische, wirtschaftliche, sicherheitstechnische und versicherungsrechtliche Aspekte eine immer grössere Rolle spielen, dass unser verbleibender persönlicher Entscheidungsraum und damit unser Leben zunehmend begrenzt werden. Um diese Entwicklung zu bremsen brauchen wir Verbündete.

Wir, die direkt Betroffenen, wissen am besten, wie wir uns unser Leben wünschen. Das medizinische Personal soll uns dabei über unsere Möglichkeiten und die damit verbundenen Risiken beraten – aber nicht entscheiden. Die Entscheidung muss uns überlassen sein, was ein Verhältnis wie zwischen Rechtsanwalt und Mandanten, dem Auftraggeber, voraussetzt. Wenn uns eine kognitive Behinderung daran hindert, diese Entscheidungen selbst zu treffen und auszudrücken, sollten unsere Angehörigen diese Behinderung dementsprechend kompensieren. 

 Ärzte und anderes medizinisches Personal, mit denen ich meine besten Erfahrungen mache, sind Menschen, die micht nicht in erster Linie als Objekt ihrer professionellen Interventionen betrachten sondern mich als Bürger und  Experten in eigener Sache respektieren. Niemand kennt meine Lebensbedingungen, meine Stärken und Schwächen, Wünsche und Befürchtungen besser als ich. Mediziner, die in mir einen ebenbürtigen Zusammenarbeitspartner sehen, erzielen nicht nur bessere Ergebnisse, sie sind wahrscheinlich auch mit ihrer Arbeit zufriedener.

 In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen interessanten und lehrreichen Kongress.