Internationaler Kongress “Behindertsein in Europa” Linz, Österreich 3-5 Dezember 2003
Zu meiner Person
Ich komme ursprünglich aus Bayern, erkrankte dort 1961 an Polio, studierte 8 Jahre in Kalifornien, lebe und arbeite seit 1973 in Schweden, wo ich das Institut für selbstbestimmt Leben leite, mit dem wir Sozialpolitik in Richtung Selbstbestimmung beeinflussen wollen.
Schweden – Wunderland der Integration?
Schweden wird oft als Wunderland der Integration behinderter Menschen hingestellt: die Bauordning von 1978 schreibt Barrierefreiheit in allen Wohnungen in Neubauten von mehr als 2 Stockwerken vor. Seit 1994 zahlt die staatliche Sozialversicherung Gelder an Assistenznehmer, die damit Assistenzdienste von Gemeinden oder Firmen kaufen oder selbst ihre Assistenten in Genossenschaften oder als Arbeitgeber anstellen können. Es gibt - abgesehen von Senioreneinrichtungen - keine Heime für Menschen mit Behinderungen. Menschen mit Lernbehinderungen leben in Gruppenwohnungen mit insgesamt 5 Bewohnern und Personal.
Dennoch, Schweden ist kein Paradies für Behinderte. Im Vergleich mit der restlichen Bevölkerung schneiden wir schlechter ab: ob Ausbildung, Arbeit, Wohnen, Einkommen, Freizeitmöglichkeiten, soziale Kontakte, Teilnahme am öffentlichen Leben, Familienbildung, psychisches Wohlbefinden – laut Statistik sind wir schlechter dran als die Durchschnittsbevölkerung.
In Stockholm, wo ich wohne, ist die überwältigende Mehrzahl der Geschäfte, Restaurants, Arbeitsplätze nicht für alle gebaut. Noch immer sieht man kaum Menschen mit Behinderungen in hohen Ämtern, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur oder Medien.
Dass es dabei Menschen mit Behinderungen in Schweden besser geht als in vielen anderen Ländern ist für uns in Schweden uninteressant. Der einzig relevante Vergleich ist der mit den Lebensbedingungen unserer nicht-behinderten Geschwister, Nachbarn und Freunde. Dabei schneiden wir erbärmlich ab. In Schweden - und anderswo.
Die öffentlichen Verkehrsmittel
Die schwedische Eisenbahn hat pro Zug bestenfalls 1 Wagen mit Lift und Platz für 1 Rollstuhlfahrer. Die S-Bahn ist nur über Stufen zu erreichen. Etwa 60% aller Stockholmer Nahverkehrsbusse sind Niederflurbusse, von denen nur etwa ein halbes Dutzend mechanische Rampen als Einstiegshilfe für Rollstuhlfahrer haben. U-Bahn fahre ich nicht mehr ohne Begleiter, seitdem die neuen Wägen noch höhere Stufen zwischen Bahnsteig und Wageninnerem bilden. Ruft man jedoch mindestens 1 Stunde vor der geplanten U-Bahnfahrt an, legt ein Angestellter eine hölzerne Rampe vor die Tür des ersten Wagens - ein Beispiel für den Hang der Schweden zu ”pragmatischen” Sonderlösungen.
Selbst bei völliger Barrierenfreiheit des öffentliche Nahverkehrs bräuchten Menschen in meiner Situation zusätzliche individuelle Transportdienste. Nichtbehinderte benutzen ja auch für bestimmte Zwecke das Taxi. Für mich z.B. wären Buss oder U-Bahn auch bei völlig barrierenfreiem Ausbau nur während des Sommers eine Lösung. Von meiner Wohnung bis zum Busshaltplatz sind es 400 m – genug um Schnee, Glatteis und Wartezeiten für mich zu Gesundheitsrisiken zu machen.
Der Sonderfahrdienst des Landkreises Stockholm
Sonderfahrdienste - seit den 50er Jahren vom Landkreis finanziert und betrieben – werden uns als Lösung angeboten. Was ursprünglich als Notlösung bis zur barrierenfreien Gestaltung des öffentlichen Nahverkehrs gedacht war, ist mittlerweile zum Alibi und grösstem Hindernis geworden. Jedesmal wenn wir gegen den behindertenfeindlichen Nahverkehr demonstrierten, bekamen wir von Busssfahrern und Passagieren zu hören, wir sollten gefälligst den Sonderfahrdienst benutzen.
Ist nun der Stockholmer Sonderfahrdienst eine gleichwertige Alternative zum öffentlichen Nahverkehr? Kaum. Benützer müssen 2 Tage im voraus buchen, um sicher zu sein, zur gewünschten Zeit fahren zu können. Nach dem Buchen können Zeitpunkt oder Adresse nicht mehr geändert werden. Dennoch verkündet die Sonderfahrdienstleitung stolz: ”die meisten Reisen können am gleichen Tage gebucht werden, wenn genügend Sonderfahrdienstbusse im Betrieb sind”. Mit anderen Worten es gibt keine Garantie, kann also bei Bedarf nicht eine Stunde länger in der Arbeit bleiben und damit rechnen, vor dem Schlafengehen der Kinder zuhause zu sein. Wird man von Freunden eingeladen, muss man 2 Tage vorher wissen, wann es langweilig werden wird. Mit Kindern muss man Spontaneität miteinplanen: bin ich dran, die Kleine vom Kindergarten abzuholen, muss ich damit rechnen, dass sie zu einer Spielgefährtin nach hause gehen und von dort abgeholt werden möchte. Also, Änderung von Zeitpunkt und Adresse. Das hätte ich vor 2 Tagen wissen müssen. Und gleich heisst es, ”mit dem langweiligen Pappa kann man nichts machen”. Man kann den Fahrdienst zwar für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsplatz benutzen aber nicht für Fahrten während der Arbeitszeit. Termine ausserhalb des Betriebs, z.B. Kundenbesuche, Konferenzen, Besorgungen sind also nicht vorgesehen. Welche Arbeiten bleiben da übrig, wenn man den Arbeitgeber beim Anstellungsgespräch auf diese Begrenzungen aufmerksam macht? Bis zu 3 Personen können gleichzeitig befördert werden, was zu Stadtrundfahrten mit erheblichen Zeitverlusten führt.
Diese Begrenzungen des Sonderfahrdienstes legen die Vermutung nahe, dass seine Planer und Politiker von den folgenden Annahmen ausgingen: Behinderte Menschen haben viel Zeit, keine Kinder, keine Verpflichtungen, keine interessanten Arbeiten – wenn sie überhaupt arbeiten. Die Statistik gibt ihnen recht. Es ist tatsächlich so. Es könnte auch nicht anders sein, denn der Sonderfahrdienst würde selbst Nichtbehinderte behindern.
Die Alternative zum Sonderfahrdienst
Ich wäre kein Vertreter der Selbstbestimmt Leben-Bewegung, wenn ich jetzt nicht Vorschläge zur Verbesserung unserer Situation hätte: Taxis werden von den meisten Bürgern gelegentlch benutzt – eine einfache, flexible Lösung mit konkurrierenden Anbietern, die ihre Dienste auf die Bedürfnisse der Kunden ausrichten - ohne Vorbestellungen, lange Wartezeiten oder unfreiwilligem Sight-seeing. Der Benutzer ist Kunde und wird dementsprechend behandelt. In immer mehr europäischen und aussereuropäischen Städten gibt es barrierefreie Taxis, die alle Kunden bedienen einschliesslich derer, die während der Fahrt im Rollstuhl sitzen. Oft ist der Boden dieser ansonsten gewöhnlichen Passagierautos etwas abgesenkt. Über eine kurze, in die Heckklappe integrierte Rampe rollt man bequem in das Fahrzeug. Äusserlich sind diese Taxis nicht von anderen zu unterscheiden.
Ich bin mit solchen Taxis in spanischen Städten, in London, Dublin und den USA gefahren. Die Anti-diskriminierungsgesetze Grossbritanniens und Australiens verlangen 100% Barrierenfreiheit der gesamten Taxiflotte ab Januar 2004.
Taxis als regelmässiges Transportmittel sind für die meisten unerschwinglich. Gäbe es jedoch barrierenfreie Fahrzeuge im regulärem Taxiverkehr, würde sich der Bedarf an Sonderfahrdiensten erheblich reduzieren, und die Aufgabe bestünde dann hauptsächlich darin, die behinderten Benützer mittels zweckgebundener Geldleistungen mit der nötigen Kaufkraft zu versehen. Sachleistungen würden durch Geldleistungen ersetzt, wie es bereits u.a. in London geschieht.
Pilotprojekt für ”mainstream” Taxi in Bratislava
1997 sollte unser Institut im Auftrag der Slovakischen Regierung einen herkömmlichen Sonderfahrdienst inklusive Telefonzentrale und Fuhrpark in Bratislava aufbauen. Es gelang uns, das Sozialministerium von den Vorteilen einer mainstream Lösung zu überzeugen – also keine Sonderlösung zu wählen sondern schon bestehende allgemeine Dienste für die Bedürfnisse aller Kunden auszubauen. (Siehe http://www.independentliving.org/docs3/slovakiade.html)
Die zur Verfügung stehenden Gelder waren für den Kauf eines Mercedes Sprinterbusses mit hydraulischer Hebebühne gedacht - einen typischer Sonderfahrdienstbuss, der Benutzer schon von weitem stigmatisiert. Mit der Summe kauften wir stattdessen 5 elegante fast neue VW Busse ohne mittlere Sitzbank und mit einfachen tragbaren Alu-Rampen. Die Busse wurden an mehrere Taxiunternehmer vermietet, die sie rund um die Uhr für alle Kunden einsetzten. Die 50 RollstuhlfahrerInnen, die am Pilotprojekt teilnahmen, bekamen genügend Fahrgutscheine, die ihnen 4 Jahre lang tägliche Fahrten für Studium oder Arbeit ermöglichten. Der Wert der Gutscheine entschädigte die Fahrer auch für ihren zusätzlichen Zeitaufwand und gab ihnen somit einen wirtschaftlichen Anreiz, behinderte Kunden zu befördern.
Die Auswertung des Pilotprojekts ergab Durchschnittskilometerkosten von ungefähr der Hälfte der Kosten des Bratislava Maltesersonderfahrdienstes, der überdies nur von 8 Uhr morgens bis 4 Uhr nachmittags im Einsatz war - nie am Wochenende, wo die Sonderfahrdienstbusse dem Gerücht zufolge für Ausflüge der Vereinsfunktionäre benötigt wurden.
In unserer Lösung in Bratislava wurde die Nachfrage und nicht das Angebots an barrierenfreien Fahrzeugen subventioniert; die Taxiunternehmer bezahlten selbst für die Fahrzeuge, um an dieser lukrativen Marktnische teilzunehmen. Unser Model war so erfolgreich, dass es inzwischen in anderen slovakischen Städten kopiert wurde.
Z.Z unseres Pilotprojekts wurde die Sozialgesetzgebung Slovakiens der post-kommunistischen Ära angepasst. Unseren Kontakten am Ministerium zufolge stand unser Taxiprojekt Pate für die neuen staatlichen Geldleistungen für Beförderung im eigenen Auto oder Taxi.
Projekt ”Taxi für alle” im Landkreis Stockholm
Nach diesen Erfahrungen in Slovakien begannen wir 1998 mit den Vorbereitungen zu einem ähnlichen Pilotprojekt im Landkreis Stockholm. Unser Institut erhielt Mittel für die Durchführung einer Vorstudie vom Landkreis und der staatlichen Transportforschungsbehörde. Die Vorstudie resultierte in dem Plan für ein Pilotprojekt mit Vorschlägen für Verträge zwischen allen Beteiligten, für Regelwerk, Zahlungsrutinen und andere Details. Der Plan wurde von der damaligen konservativen Mehrheit des Landkreises im Frühjahr 2001 angenommen. Das Pilotprojekt wurde von September 2001 bis Dezember 2002 unter dem Namen ”Taxi für alle” durchgeführt.
50 Sonderfahrdienstbenutzer nahmen teil. Ich war natürlich auch dabei. Insgesamt etwa 35 angepasste Fahrzeuge wurden von drei Taxiunternehmern eingesetzt. Laut Vertrag sollten die Taxis innerhalb von 45 min nach der Bestellung kommen. Meistens kamen sie früher.
Wie in unserem Bratislava-Projekt bekamen auch in Stockholm die beteiligten Taxiunternehmer keine Mittel für die Anschaffung der geeigneten Fahrzeuge. Die Mehrkosten der barrierefreien Fahrzeuge sollten durch ihre Einnahmen während des Projekts und seiner erhofften Fortsetzung finanziert werden. Dagegen wurde die Nachfrage der behinderten Teilnehmer subventioniert; ihre monatlichen Kosten für Taxifahrten sollten der Pauschale für den Sonderfahrdienst entsprechen. Für die Teilnehmer, die so oft sie wollten taxifahren konnten, enstanden somit keine Mehrkosten.
Die Auswertung des Pilotprojekts ergab, dass die Qualität der Dienste, die ungeahnte Flexibilität und Freiheit sowie das ungewohnte Gefühl, wie Kunden und nicht wie Kartoffelsäcke behandelt zu werden, die Teilnehmer begeisterte. Einige durch Rheuma behinderte Teilnehmer berichteten, dass ihnen in den bequem gefederten Personenwägen der Taxiunternehmer das Überfahren von Geschwindigkeitsbremsen keine Schmerzen verursache - im Gegensatz zu Fahrdienstbussen, deren harte Federung für schwere Lasten bemessen ist. Die begeistersten Berichte kamen von beruflich aktiven Teilnehmern oder Eltern kleiner Kindern, was verständlich ist, wenn man die oben beschriebene Unflexibilität des Sonderfahrdienstes bedenkt.
Die wirtschaftliche Auswertung durch einen renommierten Volkswirtschaftler der Universität zeigte, dass die durchschnittlichen Kosten der Lösung für den Landkreis per Kundenkilometer bedeutend unter den Kosten des Sonderfahrdienstes liegen. Dieses Ergebnis wurde jedoch von der Sonderfahrdienstverwaltung des Landkreises bestritten – ohne exakte Zahlen vorzulegen.
Fortsetzung?
Nach Abschluss des Versuchsprojekts wurde das Projekt ”Taxi für alle” unter einem anderen Namen als permanentes Dienstleistungsangebot und Komplement zum Sonderfahrdienst vom Landkreis angeboten. Am liebsten würde ich hier aufhören, aber die Geschichte geht noch weiter.
Seit Januar 2003 haben wir eine rot-grüne Mehrheit im Landkreis, die von ihren konservativen Vorgängern ein gewaltiges Haushaltsdefizit erbte, das man jetzt mit radikalen Sparmassnahmen kurieren will. Leider gab die Sonderfahrdienstverwaltung des Landkreises nie zu, dass ihre Lösung - Sonderfahrdienstbusse - nicht nur schlechtere Qualität beinhaltet sondern auch den Steuerbezahlern teurer kommt als unsere Taxilösung. Von den Politikern der jetzigen Mehrheit wurde die Taxilösung als Luxus hingestellt, den man sich in diesen Zeiten nicht leisten könne. Bei einer Abstimmung im Herbst beschloss der Landkreis, die Taxilösung mit einer Benutzungsgebühr in Höhe von 50% des Taxameterbetrags zu belegen. Das können sich die wenigsten in unserer Gruppe leisten. Mobilität und Flexibilität wurden somit zur Klassenfrage.
Schlussfolgerungen
Wir haben die Öffentlichkeit – und uns selbst - noch nicht davon überzeugt, dass wir Bürger mit den gleichen Pflichten und Rechten, Wünschen und Erwartungen sind. Daher werden wir mit Sachleistungen z.B. Sonderfahrdiensten abgespeist, die uns Teilnahme am Leben mit Familie, Arbeit und Freizeit nur in dem Umfang erlauben, den andere als für uns angemessen betrachten.
Sachleistungen wie Sonderfahrdienste beinhalten oft Bevormundung, Monopollösungen, ineffektive Bureaukratie und zentrale Planwirtschaft. Geldleistungen an die Betroffenen dagegen ermöglichen Wahlfreiheit der Benutzer und Konkurrenz der Anbieter, die zu höherer Effizienz und Qualität führen kann. Geldleistungen setzen mündige Bürger voraus, die Entscheidungen in ihrem besten Interesse treffen können. Die meisten von uns – auch Menschen mit Lernbehinderungen – können soweit kommen - mit Hilfe von Vorbildern, Informationen und der Unterstützung anderer Betroffener. Auch diese Einsicht ist noch nicht in die Öffentlichkeit gedrungen, die uns als schwache Wesen sieht, die verwaltet, beschützt und betreut werden möchten.
Lösungsvorschläge zu unserer Emanzipation stossen oft auf den Widerstand der Betreiber von Sonderlösungen - meistens Gemeinden oder Wohlfahrtsverbände. Meiner Erfahrung nach könnten wir diese Hindernisse elegant überspringen, wenn die Finanzierung dieser Dienste nicht wie oft bisher in Form von Sachleistungen und Objektfinanzierung auf lokaler Ebene erfolgen würde sondern auf nationaler Ebene durch Subjektfinanzierung und Geldleistungen direkt an die Betroffenen – vorausgesetzt dass die Höhe der Beträge dem Einzelnen erlaubt, Dienstleistungen in genügendem Umfang zu Marktpreisen zu kaufen.
In Schweden gelang es uns 1994, mit Hilfe der bundesstaatlichen persönlichen Assistenzgelder den halb-institutionellen Fokus-Häusern und ambulanten Gemeindediensten zu entfliehen. Der nächste Schritt müssen bundesstaatliche Mobilitetsgelder sein, die uns ermöglichen den lokalen Sonderfahrdiensten in Taxis davonzufahren!