Dr. Adolf Ratzka
Independent Living Institute
www.independentliving.org
www.independentliving.org/ratzka.html
Zu meiner Person
Ich komme ursprünglich aus Bayern, bekam im Alter von 17 Jahren Polio, verbrachte 5 Jahre in Krankenhäusern aus Mangel an rollstuhlgerechten Wohnungen und praktischen Hilfen im Alltag. Mit 22 Jahren bekam ich die Möglichkeit direkt vom Krankenhaus in München in ein Studentenwohnheim in Los Angeles zu ziehen um dort zu studieren - mit elektrischem Rollstuhl und Beat mungsgerät, ohne Familie oder Bekannte im neuen Land.
Durch eine Sonderlösung bezahlte mir der bayrische Staat über das deutsche Konsulat alle meine Kosten einschliesslich meiner Hilfsmittel. Vor allem aber hatte ich Geld für ausreichende persönliche Assistenz. Damit bezahlte ich Mitstudenten als Assistenten, die ich selbst anstellte und anlernte.
Verglichen mit dem Patientendasein im Krankenhaus führte diese Lösung eine Reihe von für mich umwälzenden Veränderungen mit sich: Ich war nicht mehr umgeben von Leute in weissen Uniformen und pflegerischen Berufen, die meinen Tagesablauf bestimmten und über mich verfügten. Niemand, der mich ”betreute” und ”versorgte”. Ich war nicht mehr Patient sondern Chef. Nicht mehr Objekt, sondern Subjekt. Zum ersten Mal hatte ich die reellen Voraussetzungen, die Verantwortung für mein Leben zu übernehmen, wie andere Gleichaltrige auch. Diese Erfahrung hat meine persönliche Entwicklung und meine spätere Arbeit geprägt.
1973 kam ich nach Schweden, um Material für meine Doktorarbeit zu sammeln. In den folgenden Jahren arbeitete ich in Stockholm als Forscher mit Fragen des barrierenfreien Wohnungsbaus und dem Abbau von Einrichtungen. In den 80er Jahren importierte ich die internationale Independent Living-Bewegung - Selbstbestimmt Leben -nach Schweden und gründete die Stockholmer Genossenschaft für Independent Living, STIL, die erste europäische persönliche Assistenzgenossenschaft, deren Arbeit als Modell für die schwedische Assistenzreform von 1994 diente. Seit 1994 leite ich das Institut für Independent Living, in dem wir versuchen, Sozialpolitik in Richtung Selbstbestimmung zu beeinflussen.
Um es vorwegzunehmen, Schweden ist kein Paradies für behinderte Menschen. In allen Vergleichen mit der restlichen Bevölkerung schneiden behinderte Menschen schlechter ab: ob Ausbildung, Arbeit, Wohnen, Einkommen, Freizeitmöglichkeiten, soziale Kontakte, Teilnahme am öffentlichen Leben, Familien bildung, psychisches Wohlbefinden -laut offizieller Statistik sind wir schlechter daran als die Durchschnittsbevölkerung.
Ich kann in Stockholm immer noch keinen Bus benutzen; die überwältigende Mehrzahl der Geschäfte, Restaurants, Arbeitsplätze ist nicht für alle gebaut. Noch immer sieht man kaum Menschen mit Behinderungen in hohen Ämtern, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur oder Medien.
Dass es dabei Menschen mit Behinderungen in Schweden besser geht als in vielen anderen Ländern ist für uns in Schweden uninteressant. Der einzig relevante Vergleich ist der mit den Lebensbedingungen und Möglichkeiten unserer nicht -behinderten Geschwister, Nachbarn und Freunde. In diesem Vergleich schneiden wir erbärmlich ab. In Schweden -und anderswo.
Die schwedische Assistenzreform von 1994
Aber jetzt zu meinem Thema, der schwedischen persönlichen Assistenzreform von 1994. Ich beschreibe das System an hand meiner eigenen Situation.
Ich habe einen Assistenzbedarf von im Durchschnitt 18 Stunden am Tag. Das wurde in einem Gepräch mit der Sachbearbeiterin am örtlichen Büro der staatlichen Sozialversicherung festgestellt. Ein altes allgemeines ärztliches Attest, das Ursache und Ausmass meiner Behinderung erwähnt, spielte dabei eine nur untergeordnete Rolle, denn laut Gesetz bestimmt die ganze Lebenssituation den Assistenzbedarf.
Ich bin verheiratet, unsere Tochter ist 8 Jahre alt. Meine Frau und ich sind berufstätig. Laut Gesetzt sollen die Assistenzleistungen die in der schwedischen Gesellschaft übliche Arbeitsteilung innerhalb der Familie ermöglichen. Ich kann also meine Assistenten dazu einsetzen, mir beim Von-Der-Schule-Abholen, beim Einkaufen, Kochen, Putzen, etc zu helfen. Einfache Arbeiten oder Reparaturen am Haus und im Garten lasse ich auch von ihnen machen -also alles, was ich selbst erledigen würde, wenn ich nicht behindert wäre.
Mit Hilfe meiner Assistenten kann ich arbeiten. Eine der wichtigsten Funktionen dabei ist die Reisebegleitung. Als Leiter des Instituts für Independent Living bin ich oft unterwegs. Da meine Frau ihren eigenen Beruf hat, verreisen wir nur im Urlaub zusammen und auch da nehme ich einen Reiseassistenten mit, damit wir möglichst die gleiche Unabhängigkeit von enander haben können, die in anderen Familien üblich ist. Für die Reisekosten des Assistenten habe ich ein Budget für Flugtickets, Hotelzimmer, Mahlzeiten, Eintrittskarten, etc. Dieses Budget ist in den monatlichen Zahlungen der Sozialversicherung bereits einbegriffen – ich muss also nicht jedesmal Gesuche einreichen, wenn ich für meinen Assistenten eine Flugreise buche.
Z. Z. arbeiten 9 Assistenten für mich – meine Frau ist übrigens auch dabei, denn manchmal wollen wir unter uns sein. Das ist unsere freie Wahl, die uns die Assistenzgelder ermöglichen. Ich könnte es mir sogar leisten, mich mit meiner Frau zu streiten, ohne sie gleich darauf bitten zu müssen, mir z. B. beim Toilettenbesuch zu helfen.
7 Assistenten arbeiten nach einem Wochenschema, die restlichen habe ich als Reserve. Keiner meiner Assistenten arbeitet ganztätig bei mir. Zwei sind freiberufliche Musiker, die ihr unsicheres Einkommen durch Assistenzarbeit bei mir ergänzen. Drei Assistenten kommen aus Lateinamerika und schlagen sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Zwei weitere studieren. Es gibt in Schweden keine Zivildienstleistenden, worüber wir sehr froh sind. Der Stundensatz, der von der Sozialversicherung an Assistenznehmer ausgezahlt wird, ermöglicht uns, einigermassen marktgerechte Löhne zu bezahlen. Zwangskommandierte Zivildienstleistende wären zwar billiger, würden aber das Berufsbild verschlechtern und unsere Personalsituation erschweren.
Der Arbeitgeber meiner Assistenten ist die von mir in den 80er Jahren gegründete Genossenschaft STIL. Wir sind z Z 250 Mitlgieder. Darunter sind Kinder, Menschen mit geistigen Behinderungen, ältere Leute – gemeinsam ist nur der Bedarf an persönlicher Assistenz. Zusammen beschäftigen wir über 1000 Assistenten. Laut Satzung besteht der Vorstand aus Menschen mit Bedarf von persönicher Assistenz. Geschäftsführer und ein grosser Teil der Büroangestellten sind behindert und meist selbst auf persönliche Assistenz angewiesen. Die Mitglieder beauftragen die Genossenschaft, die Gehälter unserer Assistenten auszubezahlen, andere damit verbundene Verwaltungsarbeiten zu übernehmen und unsere Interessen gegenüber der Sozialversicherung – notfalls auch rechtlich - zu verteidigen. Die Genossenschaft hat jedoch nichts mit der Beschaffung von Assistenten zu tun: wir haben keine gemeinsamme Asssistenten, jedes Mitglied muss sich selbst seine Leute suchen. Nur so kann man die grösstmögliche Selbstbestimmng der einzelnen Mitglieder stärken. Aber die Genossenschaft hilft neuen und alten Mitgliedern in ihren Aufgaben durch Kurse und Peer Support -also gegenseitiges Lernen und Unterstützen durch Gleichgestellte.
Assistenznehmer bekommen ihre Gelder monatlich im voraus von der Sozialversicherung. Jedes Jahr setzt die Regierung die Höhe des pauschalen Stundensatzes für das darauffolgende Jahr fest. Für 2003 beträgt er ungefähr € 22. Ich bekomme also einen monatlichen Betrag von 18 Std x 31 Tagen x € 22. Damit bezahle ich die direkten und indirekten Lohnkosten meiner Assistenten und die Verwaltungskosten der Genossenschaft. Was übrigbleibt, kann ich für die Reisekosten meiner Assistenten und ähnliche Ausgaben benutzen.
Die Gelder werden an mich ausgezahlt. Jedes Monat muss ich nachweisen, wieviele Stunden meine Assistenten gearbeitet haben. Ungenutzte Beträge werden nach einem halben Jahr verrechnet. Innerhalb dieses Zeitraums kann ich mit den Stunden nach meinem Guthalten haushalten.
Die Beträge sollen meinen Assistenzbedar f in vollem Umfang decken -nicht nur einen Teil. Die Kostendeckung ist unabhängig von Einkommen und Vermögen der Assistenzenhmer, ihrer Ehepartner oder der sonstigen Familie.
Mit den Geldern der Sozialversicherung könnte ich auch Dienstleistungen von anderen Trägern kaufen, z.B. der Stadt Stockholm, die mir ihre Angestellten nach Art der städtischen Ambulanten Dienste ins Haus schicken würde. Private Firmen und andere Genossenschaften, die STIL als Vorbild haben, bieten ähnliche Dienste an. Ausserdem gibt es die Möglichkeit, selbst Arbeitgeber seiner Assistenten zu sein. Auch hier gilt der gleiche Stundensatz. All diese Lösungen und ihre Kombinationen sind zugelassen um Vielfalt, Wahlmöglichkeit und Konkurrenz zu fördern.
Um sich für die Zahlungen der Versicherungskasse zu qualifizieren, muss ein Mindestbedarf von 20 Wochenstunden Assistenz bei den grundliegenden Tätigkeiten wie Essen, der Körperhygiene oder beim Sich-Verständigen sprechbehinderter Menschen vorliegen. Wird ein Grundbedarf von 20 Wochenstunden festgestellt, hat man darüberhinaus Aspruch auf Stunden für andere Lebenssbereiche, wie z B für Assistenz am Arbeitsplatz, Assistenz im Haushalt, in der Freizeit oder bei der Arbeit mit Kindern.
Es gibt keine obere Grenze für den täglichen Stund enbedarf. Ich kenne Kollegen, denen 27 Stunden am Tag bewilligt wurden, weil sie manchmal 2 Assistenten gleichzeitig brauchen.
Aus staatsfinanziellen Gründen wurde das Höchstalter der Assistenznehmer auf 65 Jahre begrenzt – ein Mindestalter gibt es nicht. Ohne Altersgrenze wäre die Zahl der Berechtigten wahrscheinlich mindestens 20 mal so gross. Zwar kann man die Gelder nach dem 65. Geburtstag weiterbeziehen, aber jemand der erst nach dem 65. Geburtstag behindert wird, kann nicht diesem exklusiven Club beitreten.
Menschen, die nicht für die Assistenzzahlungen der Sozialversicherung in Frage kommen, beziehen ihre praktischen Hilfen im Alltag von den Gemeinden. Die Gemeinden können dabei entscheiden, ob sie dieser Verantwortung in Form von Geld- oder Sachleistungen nachkommen.
Der Unterschied in der Lebensqualität, die die staatliche Assistenzreform und die Gemeinden ermöglichen, ist beträchtlich. Laut Gesetz sind die Gemeinden nur angehalten, eine ”angemessene” Lebensqualität zu unterstützen. Sie sind ni cht für Sach-oder Geldleistungen ausserhalb der Gemeindegrenzen verantwortlich. Die staatlichen Sozialversicheringsgelder sind dagegen exportierbar. Ich bezog z. B. meine Assistenzgelder während meines Sabbatjahrs an der Universität von Costa Rica. Ausserdem sollen die Sozialversicherungsgelder, laut Gesetz, eine ”gute” Lebensqualität ermöglichen, was mehr Stunden bedeutet.
Ohne die staatliche Assistenzreform hätten meine Frau und ich mit dem Heiraten gezögert, weil die damaligen ambulanten Dienste der Geminde zu schlecht waren, um eine ebenbürtige, sich gegenseitig unterstützende Partnerschaft zu ermöglichen, die beiden Teilen genügend Freiraum lässt, sich in seine eigene Richtung zu entwickeln. Wir hätten sicherlich kein Kind, weil alle Arbeit mit Kind und Haushalt -und zum Teil mit mir – an meiner Frau hängengeblieben wäre und weil ich in meiner Vaterrolle zu sehr eingeschränkt gewesen wäre. Mit den ambulanten Gemeindediensten hätte ich kaum meine jetzige Arbeit, könnte nicht ohne meine Frau verreisen oder im Ausland arbeiten.
Welche Schlusssätze kann man aus dieser Beschreibung ziehen?
Um Menschen ein Dasein im Heim zu ersparen sind ausreichend barrierenfreie Wohnungen und ausreichende Assistenz erforderlich. In Schweden gibt es seit einigen Jahrzehnten keine Wohnheime für Köperbehinderte mehr. Seit 1978 müssen laut schwedischen Baunormen Mehrfamilienhäuser mit mehr als 2 Stockwerken barrierenfrei gebaut werden. Alle Wohnungen auf allen Stockwerken müssen mittels geräumiger Aufzüge erreichbar sein, ohne Stufen oder Schwellen mit mehr als 3 cm Höhe zwischen Bürgersteig und Wohnungstüre; mit geräumigen Badezimmern und Küchen. Etwa 10% des gesamten Stockholmer Wohnungsbestands sind meiner Schätzung nach barrierenfrei.
Auch Menschen mit geistigen Behinderungen wohnen heute entweder allein oder in kleineren sogenannten Gruppenwohnungen mit ungefähr 6 Personen pro Wohnung plus Personal. Die Reform von 1994 gibt dem Einzelnen das gesetzlich garantierte Recht -das allerdings von den Gemeinden manchmal nicht respektiert wird -auf Wohnen in der Gesellschaft.
Es gibt heute kaum jemanden in Schweden, der die Rückkehr der Einrichtungen fordern würde. Ein Grund dafür ist vermutlich, dass Schweden – im Gegensatz zu Deutschland -keine Wohlfahrtsindustrie hat -also private Träger mit starker Lobby und guten politischen Kontakten, die schon immer Heime betrieben haben, deren Organisationsstruktur nur langsamme und geringe Veränderungen erlaubt und die wenig wirtschaftliches Interesse daran haben, in ihrer Öffentlichkeitsarbeit Menschen mit Behinderungen als fähige Bürger darzustellen, die voll im Stande sind, in der Gesellschaft, wie andere Menschen, selbstbestimmt zu leben und zu arbeiten.
Schweden ist ein Land mit grossen wirtschaftlichen Problemen, die auf eine überaltete Bevölkerung und auf Abhängigkeit von einigen wenigen konjunkturempfindlichen Industriezweigen zurückzuführen sind. Jedesmal wenn ich in Deutschland bin, fällt mir der höhere materielle Wohlstand hier auf, komme ich mir vor wie der arme Vetter vom Lande. Laut Statistik hat Schweden z. B. die ältesten Autos in der EU. Gemessen an der Kaufkraft des Durchschnittsbürgers befindet sich Schweden, laut neuester OECD Statistik an 15. Stelle, weit hinter Deutschland.
Trotz dieser wirtschaftlichen Probleme gibt es in Schweden fortschrittliche gemeindenahe Lösungen anstelle von Heimunterbringung. Rechnen wir doch einmal durch:
Etwa 11 000 Menschen – von einer Gesamtbevölkerung von 9 Millionen – beziehen Assistenzzahlungen von der Sozialversicherung. Bei einem Durchschnittsbedarf von 90 Wochenstunden und einem Stundensatz von € 22 sind das insgesamt etwa € 1,1 Milliarden jährlich. Diese staatlichen Gelder sind jedoch nur zum Teil neue Kosten, denn sie ersetzen Sachleistungen der Gemeinden.
Auf deutsche Verhältnisse übertragen würde eine ähnliche Reform insgesamt € 11 Milliarden im Jahr kosten. Aber auch hier wären es keine völlig neuen Kosten, denn Leistungen der Pflegeversicherung und der Sozialhilfe würden dadurch ersetzt werden.
Wenn man dazu noch eine Änderung der Bauvorschriften in Angriff nehmen würde, könnte man dadurch allmählich den Bestand von barrierenfreien Wohnungen erhöhen und so eine weitere Voraussetzung zum Abbau von Heimen schaffen. In Schweden, wo man schon lange keine Heime mehr baut, schätzt man die Mehrkosten des barrierenfreien Wohnungsbaus auf weninger als 1%.
Das schwedische Beispiel zeigt, dass ein Land nicht reich sein muss, um seinen behinderten Bürgern ein selbstbestimmtes Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Wenn es nun nicht am Geld liegt, meine sehr verehrten Damen und Herren, woran liegt es dann in Deutschland?