Ziel unserer Behindertenpolitik mußsein, dem
Einzelnen mehr persönliche Macht und uns als Gruppe mehr politische
Macht zu verschaffen. Triebfeder und Richtschnur in dieser Arbeit ist unser
Selbstrespekt. Unsere Umwelt bombardiert uns ständig mit Hinweisen,
daß unser Leben bemitleidenswert, lebensunwert und unwünscht
ist, daßwir Bürger zweiter Klasse sind. Viele von uns sind mit
dieser Haltung aufgewachsen und glauben selbst daran. Wir müssen uns
gegen diese Gehirnwäsche impfen, denn wenn wir nicht selbst davon überzeugt
sind, daßunser Leben genauso viel wert ist wie das anderer Menschen,
fordern wir auch nicht die gleichen Wahlmöglichkeiten, die unsere nichtbehinderten
Angehörigen, Freunde und Bekannten in allen Bereichen des Lebens haben.
Erst wenn wir davon überzeugt sind, daßwir die gleiche Lebensqualität
verdienen, die andere für selbstverständlich hinnehmen, werden
wir uns nicht mehr in Anstalten und Heime abschieben lassen, sondern fordern,
überall wohnen zu können. Dann werden wir uns nicht länger
vom Sonderfahrdienst der Wohlfahrt verfrachten lassen, sondern behindertengerechte
Anpassung aller öffentlichen Verkehrsmittel und Taxis fordern. Dann
werden wir uns nicht in krankhafte Abhängigkeit von unseren Angehörigen
zwingen lassen, sondern persönliche Assistenzdienste fordern, die uns
freimachen. Dann werden wir nicht mehr dankbar über integrierte Teestuben
und Freizeiten Freudentränen vergießen, sondern gleiche Bürgerrechte
fordern. Dann werden wir uns nicht mehr unserer Behinderung schämen,
uns verstecken und ein Zuschauerdasein fristen, sondern am Leben als freie
und stolze Menschen teilnehmen.
Was ist persönliche Assistenz?
Alle Menschen benutzen Assistenz. Manche Leute reparieren
z.B. ihre Autos selbst, andere mit weniger Zeit oder einschlägigen
Kenntnissen ziehen es vor, einen Automechaniker damit zu beauftragen. Andere
Beispiele sind Friseur, Klempner und Rechtsanwalt. Man kann nicht alles
selbst machen. Die meisten Menschen wollen sich auf die Tätigkeiten
konzentrieren, die sie gut beherrschen. Auf diese Weise kann man seine Zeit
und Energie effektiver einsetzen.
Für uns ist Assistenz noch wichtiger, weil wir unsere Behinderung kompensieren
müssen, um volle Gleichberechtigung zu erlangen. Assistenz ersetzt
unsere Arme und Beine. Dazu ein Beispiel: Ich kann mir selbst einen Pullover
anziehen, wozu ich - je nach Tageskondition - mindestens eine halbe Stunde
brauche. Nachher bin ich total erschöpft und mußmich eine Stunde
lang ausruhen. Außerdem riskiere ich dabei frühzeitige Abnutzung
meines Handgelenks. Da ich meine Zeit und Energie für andere, für
mich wichtigere Dinge einsetzen will, beauftrage ich einen Assistenten,
mir beim Anziehen zu helfen. Dazu benötigt mein Assistent eine halbe
Minute. Ich spare also 89 Minuten, die ich für meine Arbeit benutzen
kann.
Für die optimale Kompensierung unserer jeweiligen Behinderungen müssen
wir technische Hilfsmittel und persönliche Assistenz so einsetzen können,
wie wir selbst es in der jeweiligen Situation für angebracht halten.
Nur wir selbst können diese Abwägung treffen. Jeder andere, der
darüber entscheiden möchte, setzt mein Urteilsvermögen in
Frage und bevormundet mich.
Persönliche Assistenz soll ausdrücken, daß ich aus meinen
persönlichen, individuellen Bedürfnissen heraus die Arbeitsbedingungen
bestimme und entscheide, wen ich als Assistenz einsetze, für welche
Arbeiten, wann und wie die Arbeit zu machen ist.
Die Bezeichnung "persönliche Assistenz" mag für viele
noch ungewohnt klingen, aber was sind die Alternativen? Was drücken
"Pflege" oder "Betreuung" aus? Es gibt gut gemeinte
Ambulante Dienste, in denen nichtbehinderte Sozialarbeiter Menschen mit
Behinderungen integrieren wollen und als "Pflegeabhängige",
"Pflegebedürftige" oder "zu Betreuende" bezeichnen.
Wer braucht eine solche Integrationsbetreuung! Wenn wir uns selbst als gesunde,
selbständige und mündige Bürger sehen und auch von anderen
so gesehen werden wollen, müssen wir organisatorische Voraussetzungen
und Bezeichnungen für Assistenzdienste finden, mit denen wir uns freimachen,
uns selbst respektieren und von unserer Umwelt geachtet werden können.
Viel zu wenige von uns benutzen persönliche
Assistenz in einem Umfang, der ihnen zu den gleichen Lebensbedingungen,
die andere Mitbürger haben, verhilft. Ein Grund dafür ist die
Einstellung unserer Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderungen.
Zwar fordert z.Zt. kein Politiker unsere Liquidierung - allenfalls durch
Schwangerschaftsunterbrechung - aber nirgendwo ist unser Recht auf konkrete
Voraussetzungen zu gleichen Lebensbedingungen verbürgt. Daher haben
wir auch nicht das gesetzlich garantierte Recht auf persönliche Assistenz,
die uns ermöglicht, Ausbildung, Arbeit, Wohnform, Familie, Freizeit,
Urlaub - kurz Lebensstil - im gleichen Maße wie andere so zu wählen,
wie es unseren persönlichen Neigungen und nicht den Vorstellungen des
Sozialamts entspricht.
Schon immer hat man uns - ganz im Gegensatz zur Bundeswehr als Zielscheibe
für Sparmaßnahmen gesehen und kaum ein Land der Welt kann es
sich "leisten", uns ausreichende persönliche Assistenz zur
Verfogung zu stellen. Dagegen schiebt man uns in Anstalten und Heime ab,
wo man uns in Großbetrieben rationell nach dem Fließbandprinzip
verwahrt, um die pro-Kopf Kosten auf ein dem Steuerzahler genehmes Minimum
zu reduzieren. Dort wird persönliche Assistenz und damit unsere Lebensqualität
auf ein Minimum reduziert. Als Rechtfertigung für Pflegeheime wird
angeführt, daßwir krank und daher in krankenhausähnlichen
Institutionen zu "betreuen" seien. Dort bestimmen die Bedürfnisse
nach reibungslosem Funktionieren der Anstalt. Der Einzelne wird systematisch
angepaßt, unterdrückt, gebrochen, abgestumpft und verblödet,
bis er zu keiner Eigeninitiative mehr fähig ist und dem Bild des harmlosen,
pflegeleichten Behinderten entspricht, das die Öffentlichkeit von uns
hat.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf die gefährliche Falle der
Kostenvergleiche hinweisen, in die sich viele von uns manövrieren lassen.
Sollen wir nur dann für unsere Bürgerrechte kämpfen, wenn
damit nachweislich Steuergelder gespart werden können und somit mehr
Mittel für Rüstung, umweltfeindliche Produktion und andere behinderungsfördernde
Maßnahmen übrigbleiben? Die logische Folgerung des Kostenvergleichs
ist, uns kostengünstig zu vergasen. Wenn wir uns also nicht unser eigenes
Grab schaufeln wollen, müssen wir Kostenvergleiche als irrelevante
Kriterien ablehnen und statt dessen unsere Menschen- und Bürgerrechte
fordern.
Viele von uns beschränken freiwillig die Anwendung
von persönlicher Assistenz und damit ihr eigenes Leben auf ein Minimum,
denn persönliche Assistenz wird in noch viel höherem Maße
als technische Hilfsmittel von unserer Umwelt und uns selbst als Merkmal
unseres sozialen Statutes als Menschen zweiter Klasse gesehen.
Die Erklärung dafür ist in den Wertvorstellungen unserer Gesellschaft
zu suchen, die u.a. im Sprichwort "Selbst ist der Mann" zum Ausdruck
kommen. Diese Haltung wird uns von Rehafachleuten eingebleut. Die medizinischen
Berufe, die Behinderung als eine Art Krankheit sehen, haben den Ehrgeiz,
uns nach bekanntem Vorbild ("Nimm dein Bett und geh") zu heilen
oder uns zumindest von den Folgen unserer Behinderung zu erlösen. Behinderung
und damit Bedarf an technischen Hilfsmitteln und vor allem an persönlicher
Assistenz kann demnach wegtrainiert werden. Die das nicht schaffen, sind
faul und selber schuld. Persönliche Assistenz soll nur als letzter
Ausweg und nur för das Allernötigste verwendet werden.
Das Ideal der Stärke, vom Faschismus vererbt und hauptsächlich
als körperliche Stärke ausgelegt, wirkt auf subtile Weise als
Unterdrückungs- und Selbstverachtungsmechanismus. Diesem Ideal zufolge
gelte ich als schwach, hilflos und unterlegen, weil ich mir nicht selbst
die Hosen hochziehen kann. Menschen mit Behinderungen zählen wie Kinder
zu den Schwachen der Gesellschaft. Wie Kinder brauchen wir daher den allgemeinen
Vorstellungen zufolge Bevormundung und Betreuung. Körperliche Abhängigkeit
von praktischen Handreichungen wird gleichgesetzt mit intellektueller und
emotioneller Abhängigkeit von anderen. Diese Einstellung drückt
sich in der Organisation der meisten heutigen Assistenzformen aus, in denen
andere über unser Leben bestimmen.
Jeder Marlborough-Mann mit Selbstachtung - Männer sind für dieses
Stärkeideal besonders anfällig - wird sich daher eher buchstäblich
zu Tode rackern, als zu riskieren, vor sich selbst und anderen als "Pflegefall"
dazustehen. Wir alle kennen bemitleidenswerte Kollegen, die sich stolz im
manuellen Rollstuhl vorwärtsquälen und dabei von anderen im Elektrofahrstuhl
flott überholt werden. Genauso gibt es Leute unter uns, die es sich
von ihrem schwachen Selbstbewußtsein her nicht leisten können,
Assistenten einzusetzen.
Unsere Umwelt sieht gerne, daßwir uns so viel wie möglich abstrampeln,
um unseren Alltag allein zu bewältigen. Auf diese Weise mit uns selbst
beschäftigt, fallen wir dem Sozialhaushalt weniger zur Last, haben
weder Zeit noch Energie, Forderungen nach Chancengleichheit mit Ausbildung,
Beruf und sinnvoller Freizeit zu stellen und uns im politischen Kampf für
unsere Bürgerrechte zu engagieren. Kein Wunder also, daßuns das
Musterkrüppelchen als Vorbild hingestellt wird, das sich den ganzen
Vormittag mit Waschen, Anziehen und Kochen abmüht und sich dann übermüdet
ausruhen muß, um fürs Zubettgehen genügend Kraft zu sammeln.
Ein weiterer Grund för die Stigmafunktion der persönlichen Assistenz ist die damit verbundene Bevormundung und soziale Kontrolle. In lnstitutionen, wo noch immer viele von uns ihr Leben fristen, sind diejenigen, die am meisten Assistenz brauchen, am stärksten der totalitären Kontrolle des Apparats unterworfen, der sogar die körperliche Notdurft in der Gewalt hat. Institutionen bestehen aber nicht nur aus Gittern und Mauern. In verschiedenen Ländern hat man Ambulante Dienste (sprich ambulante Institutionen) aufgebaut, die sich nur wenig von Pflegeheimen unterscheiden. Wir müssen die Dinge beim rechten Namen nennen. Ich schlage daher die folgende Definition einer Institution vor. lch stehe einer Institution gegenüber, wenn
Dieser Definition nach haben die meisten heute existierenden Assistenzlösungen Institutionszüge, die uns beschränken und entmachten. Kein Wunder also, daß viele von uns aus Furcht vor dieser Unterdrückung entweder die Abhängigkeit von Angehörigen vorziehen oder versuchen, soviel wie möglich ohne Assistenz auszukommen, auch wenn das Selbsteinschränkung und Verzicht auf ein normales Leben bedeutet.
Independent Living für mehr persönliche und politische MachtUnsere Aufgabe besteht darin, Organisationsformen
för persönliche Assistenz zu entwickeln, die uns zu mehr persönlicher
Macht und den notwendigen Voraussetzungen zu gleichen Lebensbedingungen
verhelfen. Als Beispiel für eine solche Organisationsform möchte
ich hier das schwedische STIL-Projekt beschreiben. (STIL bedeutet "Stockholmer
Kooperativ für Independent Living".)
In meinen Studienjahren in Kalifornien kam ich Anfang der 70er Jahre mit
der Independent Living Bewegung in Berührung, die sich seitdem zu einem
internationalen Netzwerk und einer Bürgerrechtsbewegung entwickelt
hat, die gegen Diskriminierung und mehr persönliche und politische
Macht für Menschen mit Behinderungen kämpft. (Ansätze zu
Independent Living Gruppen gibt es auch in der BRD, wo man Independent Living
teilweise mit dem akademisch-abstrakt klingenden und nicht ganz korrekten
"Autonomes Leben" übersetzt. "Selbstbestimmtes Leben'
paßt meiner Meinung nach besser.) Die Independent Living Bewegung
fordert, daßwir die Verantwortung und Kontrolle über unser Leben
selbst übernehmen, unsere Probleme selbst definieren, Lösungen
ausarbeiten und nie die Initiative an andere abtreten. Das gilt sowohl für
das Leben des Einzelnen als auch für unsere Organisationen.
STIL wurde 1984 von einigen Behinderten mit dem Ziel gegründet, ein
Projekt mit selbstverwalteter persönlicher Assistenz durchzuführen.
Wir wählten persönliche Assistenz als Aufgabenbereich, weil in
Schweden trotz der im Vergleich mit anderen Ländern gut ausgebauten
Ambulanten Dienste unser Leben in hohem Maße vom stark professionalisierten
Sozialsektor beherrscht wird. Wie auch anderswo sind wir Bürger zweiter
Klasse, führen ein eingeschränktes Leben, werden betreut und verwaltet.
In Schweden ist für viele von uns eine Fokuswohnung
die einzige Alternative außerhalb von Pflegeheimen - eine Wahl zwischen
Pest und Cholera.
Die Fokuslösung besteht darin, daßman in einem gewöhnlichen
Wohnkomplex etwa 10 - 15 Spezialwohnungen einstreut, die durch eine Sprechanlage
mit einer rund um die Uhr besetzten Personalzentrale in Verbindung stehen.
Fokus wird oft als Patentlösung für alle Menschen mit Bedarf an
persönlicher Assistenz hingestellt und erfreut sich z.Zt. in der BRD
und vor allem in den Niederlanden in Ermangelung emanzipierter Assistenzlösungen
und selbstbewußter Behindertenorganisationen bei Nichtbehinderten
und heimgeschädigten Behinderten großer Beliebtheit.
STIL's Kritik an den Fokuswohnungen, die wir in Anlehnung an die Lage unserer
unterdrückten Kollegen in Südafrika "home-lands" nennen,
zielt auf deren Monopolstellung, die keine Wahlmöglichkeit von Wohnort
und -form zuläßt und auf deren Institutionscharakter ab. Alle
Punkte der oben aufgestellten Definition einer Institution werden von Fokus
zufriedenstellend erfüllt. Einige der überzeugtesten und aktivsten
STIL-Mitglieder sind ehemalige Fokusinsassen, denen es gelang, sich mit
Hilfe des STIL-Projekts zu befreien und in ganz gewöhnliche Neubauwohnungen
zu ziehen, die laut Gesetz voll behindertengerecht gebaut werden müssen.
Charakteristisch fbr STIL und das Projekt, das seit
Januar 1987 läuft, ist die Grundforderung der Independent Living Bewegung:
Selbstbestimmung im Leben des Einzelnen und in unserer Organisation.
Dieser Forderung entsprechend haben sich bisher 20 STIL-Mitglieder in einer
Genossenschaft zusammengeschlossen, um die maximale Verantwortung für
ihre eigene persönliche Assistenz zu übernehmen. Keiner wird als
Klient behandelt. Jeder ist selbst dafür verantwortlich, sich seine
Assistenten durch Zeitungsinserate und andere Wege zu suchen, zu interviewen,
anzustellen, auszubilden, anzuleiten, zu bezahlen und - falls notwendig
- zu entlassen. Wir haben also keine Sozialarbeiter im Büro, die uns
Leute ins Haus schicken. Das wäre zwar für den Einzelnen bequemer,
würde uns aber die Gelegenheit nehmen, endlich selbst diesen wichtigen
Teil unseres Lebens in die Hand zu nehmen. Jeder soll die größtmögliche
Freiheit haben, sich sein eigenes System zurechtzuschneidern und nach Bedarf
ändern zu können. Jeder soll seine von der Gemeinde genehmigten
Assistenzstunden unter so vielen oder so wenigen Assistenten aufteilen und
zu den Zeiten und für die Zwecke verbrauchen, die er selbst für
richtig hält. Niemand kennt unsere Bedürfnisse besser als wir.
Bisher mußten wir unsere Bedürfnisse unserer Assistenz anpassen.
Im STIL-Projekt passen wir unsere Assistenz unseren Bedürfnissen an.
Jeder Teilnehmer verfügt innerhalb der Genossenschaft über sein
eigenes Konto, um damit seine Assistenten und die mit der Assistenz verbundenen
Nebenkosten zu bezahlen. Die Gelder dazu kommen vierteljährlich von
der Gemeinde Stockholm und entsprechen den Selbstkosten, die vor dem STIL-Projekt
die Ambulanten Dienste oder Fokusunterbringung des jeweiligen Projektteilnehmers
für die Gemeinde mit sich führten. Für die Gemeinde entstehen
somit keine Mehrkosten durch das Projekt. Die Stadtverwaltung stellt den
Stundenbedarf der einzelnen Projektteilnehmer fest. Bei dieser und ähnlichen
Verhandlungen mit der Gemeinde kann sich der Projektteilnehmer auf Wunsch
von anderen Mitgliedern mit mehr Erfahrung begleiten lassen. Außerdem
überwacht STIL den Verlauf dieser Verhandlungen und ist bereit, notfalls
unsere Freunde in den verschiedenen öffentlichen Verwaltungen, politischen
Parteien und der Presse einzuschalten. Wir betreiben eine erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit.
So wurde das STIL-Projekt vor kurzem in der alljährlichen allgemeinpolitischen
Debatte der Parteiführer im schwedischen Reichstag ausführlich
beschrieben und als Vorbild dargestellt.
Die Stundenanzahl wird mit den Durchschnittsselbstkosten der Gemeinde von
z.Zt. 131 kr (ungefähr DM 35,--) pro Assistenzstunde multipliziert
und auf das STIL-Konto des betreffenden Teilnehmers überwiesen. Mit
diesen Geldern bezahlt der einzelne Projektteilnehmer nicht nur seine Assistentengehälter,
Sozialabgaben und Nebenkosten, wie Mahlzeiten oder Reisekosten der Assistenten
(wenn uns z.B. Assistenten auf Reisen begleiten), sondern auch die Verwaltungskosten
des Projekts. Dazu gehören Büromiete und -ausrüstung, Gehälter
der Projektleitung, Öffentlichkeitsarbeit, Kurse für neue Mitglieder
und Ausbildung der Projektteilnehmer. Diese Verwaltungskosten werden in
Form von Mitgliedsbeiträgen an das Kooperativ von den einzelnen Projektteilnehmern
bezahlt. Der Mitgliedsbeitrag wird als Prozentsatz des Gesamtbetrages, den
die einzelnen Projektteilnehmer von der Stadtverwaltung auf ihr jeweiliges
STIL-Konto einbezahlt bekommen, ausgedrückt. Gelder, die dem Projektteilnehmer
nach Bezahlung der obigen Posten bei der jährlichen Abrechnung verbleiben,
gehen an die Gemeinde zurück.
Die Genossenschaft hat die formelle Arbeitgeberverantwortung
für unsere Assistenten, denn unser Vertrag mit der schwedischen Kommunalarbeitergewerkschaft
läßt z.Zt. nur diese Konstruktion zu. Ab Juni 1988 können
auch einzelne Projektteilnehmer selbst Arbeitgeber sein. Als Arbeitgeber
haben wir die größtmögliche Kontrolle über unsere Assistenz.
An diesem Punkt erleben wir den stärksten Widerstand von Sozialarbeitern,
nichtbehinderten Behindertenfunktionären und angepaßten Behinderten.
Einmal hält man uns nicht dazu in der Lage, diese Rolle zu übernehmen.
Wie üblich unterschätzt man uns, indem man Bedarf an Assistenz
mit Unselbständigkeit, Hilflosigkeit und Unmündigkeit gleichsetzt.
Niemand bezeichnet einen Unternehmer als hilflos, nur weil er ohne seine
Arbeitskraft den Betrieb schließen müßte. Der Unterschied
liegt darin, daßwir in den Augen unserer Umgebung Menschen zweiter
Klasse sind. Das Bild vom Arbeitgeber dagegen beinhaltet genau das Gegenteil:
dynamisch, hart im Verhandeln, erfolgreich, mit gezückter American
Express Card. Unsere Forderung auf Arbeitgeberstatus kommt demnach einem
Umsturz der ganzen Gesellschaftspyramide gleich.
STIL bekommt auch Widerstand von seiten mancher Sozialarbeiter zu spüren,
die sich ausrechnen können, daß das STIL-Projekt, wenn es sich
verbreiten sollte, manche von ihnen um den Arbeitsplatz bringen kann. Tiefer
noch sitzt der Schrecken bei einigen vor der Einsicht, daßMenschen,
die sich bisher dankbar betreuen ließen, sich nicht mehr automatisch
för die Helferinstinkte anderer hergeben, sondern lieber selbst ihre
Sache in die Hand nehmen.
Viele von unseren eigenen Leuten, die bei diesem Anspruch auf Eigenverantwortung
Angst bekommen und die bequeme Bevormundung durch Profis bevorzugen, stört
STIL's Sprachgebrauch. Anstatt "Arbeitgeberverantwortung" und
damit "Macht" und "Kontrolle" zu fordern, ziehen sie
"Miteinander-Füreinander-Hallo-Partner-Dankeschön"-Gewäsch
vor und wollen allenfalls Mitbestimmung.
Assistenz ersetzt unsere Arme und Beine. Andere Menschen haben direkte Kontrolle
über ihre Arme und Beine - nicht Mitbestimmung.
Das Verhältnis zu den Assistenten stellen sich viele, die ihr Leben
den Wünschen und Vorstellungen anderer anpassen mußten und sich
vielleicht einsam fühlen, lieber als eine Art Freundschaft vor. Eine
Arbeitgeber-Arbeitnehmerbeziehung entspricht somit nicht ihren emotionellen
Bedürfnissen. In der BRD konnte ich diese Haltung vor allem bei Leuten
beobachten, die gleichaltrige Zivildienstleistende beschäftigen und
sich ihnen gegenüber offensichtlich nur schlecht durchsetzen können.
Der Verdacht drängt sich dabei auf, daßdie Wunschvorstellung
nach einer harmonischen Kumpelbeziehung die Tatsache verstecken soll, daßjemand
aus Schwäche Kompromisse schließt und aus der Not eine Tugend
macht. Das Arbeitgeber-Arbeitnehmerverhältnis braucht durchaus nicht
gefühlskalt zu sein, dazu ist die Beziehung viel zu nahe. Jemand, der
persönliche Assistenz effektiv einsetzen möchte, wird jedoch Prioritäten
setzen und von seinen Assistenten in erster Linie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit,
Zurückstellung eigener Bedürfnisse während der Arbeitszeit,
gute Arbeit und Respekt verlangen. In einem Freundschaftsverhältnis
sind diese Qualitäten zwar durchaus möglich, aber nicht als Regel
zu erwarten. Dies trifft in besonderem Maßauf Assistenten des anderen
Geschlechts zu. Persönliche Assistenz ist ein schlechter Ersatz för
Freundschafts- oder Partnerbeziehungen. Effektiver Einsatz von persönlicher
Assistenz ist jedoch eine notwendige Voraussetzung für ebenbürtige
Freundschaft und Liebesbeziehungen.
In Schweden gibt es glücklicherweise fast keine Zivildienstleistenden.
Dadurch wird uns erspart, Leute als Assistenten zu erdulden, die diese Arbeit
nicht aus freien Stücken und als geringeres Übel gewählt
haben. Bei Arbeitskräften, die so unterbezahlt werden wie Zivildienstleistende,
dürften auch oft Erwartungen an Belohnungen anderer Art mitspielen,
z.B. ein Anspruch auf Dankbarkeit oder die Vorstellung, sein pädagogisches
Talent beweisen und einen Behinderten auf Vordermann bringen zu können.
Ähnlich wie bei Freiwilligenhelfern bieten solche Motive keine gesunde
Grundlage für gute Arbeit. Es versteht sich von selbst, daßich
von jemanden, dem ich einen angemessenen Gehalt bezahle, eher Qualitätsarbeit
und Respekt verlangen kann als von jemanden, dem ich mich zu Dankbarkeit
verpflichtet fühlen muß. Zivildienstleistende und Freiwilligenhelfer
verderben den Arbeitsmarkt für persönliche Assistenten, weil ihre
Existenz eine marktgerechte Lohnentwicklung bremst und dadurch zu ständigen
Unterangebot an persönlichen Assistenten führt.
Die Arbeitgeberrolle gibt uns die Voraussetzung, nicht mehr Objekt, sondern
Subjekt zu sein.
Zu den Skeptikern des STIL-Projekts gehören
vor allem die etablierten Behindertenorganisationen, die auch in Schweden
noch stark von engagierten nichtbehinderten Philanthropen im Vorstand und
Funktionärskader kontrolliert werden. Diese Organisationen, die schon
seit langem Energie und Prestige in die Fokuslösung investieren, sehen
mit Argwohn, wie STIL mit Vorträgen, Reportagen in der Tagespresse
und seiner respektlosen Monatszeitschrift STILETTEN die Loyalität der
jüngeren Mitglieder unterminiert, die sich in den von ihren nichtbehinderten
Funktionären abgesegneten Fokuswohnungen zunehmend unwohler fühlen
- vor allem, wenn sie den enormen Aufschwung im Leben der STIL-Projektteilnehmer
beobachten können. Um der Gefahr der Bevormundung durch Nichtbehinderte
vorzubeugen, hat STIL laut Statuten nur Menschen mit Bedarf an persönlicher
Assistenz als stimmberechtigte Mitglieder und Vorstandsmitglieder. (Nichtbehinderte
sind als Stützmitglieder willkommen.) Nur Leute mit Bedarf an persönlicher
Assistenz arbeiten im Büro. Wozu diese an Rassismus grenzende Selbstsegregierung,
kann man sich fragen?
Nur solche Mitglieder sollen Politik und Arbeit des STIL-Projekts bestimmen,
die unmittelbar davon betroffen sind. Wir sind die besten Experten. Wir
sind es satt, Zeit und Energie damit zu verlieren, anderen gegenüber
immer wieder Erklärungen abgeben und unsere Vorstellungen verteidigen
zu müssen. Das Gefühl der gemeinsamen Bedürfnisse und Erfahrungen
schafft dagegen Engagement und Zusammenhalt in der Gruppe.
Die Arbeitslosigkeit unter Behinderten und vor allem denen, die persönliche
Assistenz brauchen, ist um ein Vielfaches höher als die der Durchschnittsbevölkerung.
Was liegt daher näher als Arbeitsplätze in unseren Organisationen
für unsere Leute zu reservieren? Wir müssen Behindertenorganisationen
ablehnen, in denen nichtbehinderte Vorsitzende Wirtschaft und Staat bitten,
Behinderten Arbeitsplätze zu beschaffen, aber selbst bestenfalls nur
einen Vorzeigekrüppel im Büro haben.
Eine unserer größten Behinderungen ist unser Image vom hilflosen,
harmlosen Krüppelchen. Viele von uns sind dieser Gehirnwäsche
selbst zum Opfer gefallen und haben geringes Selbstvertrauen und Erwartungen
an sich. Verstärken wir nicht diese Vorurteile, wenn wir in unseren
eigenen Organisationen Nichtbehinderte an führender Stelle für
uns arbeiten und sprechen lassen? Was sollen Jugendliche mit Behinderungen
von sich und ihren Zukunftsaussichten halten, wenn sie niemals erwachsene
Behinderte in führenden Positionen - nicht einmal in unseren eigenen
Organisationen - zu Gesicht bekommen? Wir brauchen positive Vorbilder, mit
denen wir uns gegen Jahrhunderte negativer Programmierung impfen können.
Es gibt viele wohlmeinende und sozial engagierte Menschen - oft jüngere
Sozialarbeiter, die mit uns für unsere Emanzipation kämpfen wollen.
Wir alle kennen die Situation, wenn sich diese meist gutausgebildeten und
verbalen Leute unserer Sache annehmen und in unseren Gruppen das Wort und
die Initiative ergreifen. Viele von uns dagegen hatten in ihrem Leben nicht
viel Gelegenheit dazu, sich die für Vereinsarbeit notwendigen Fähigkeiten
und das rechte Selbstvertrauen anzueignen. Vor die Wahl gestellt, entweder
unerfahrene Behinderte oder geschickte Nichtbehinderte mit einer Aufgabe
zu beauftragen, machen viele Gruppen den Fehler und wählen Nichtbehinderte
mit der Begründung, daßes wohl nicht auf die Behinderung ankäme,
sondern ob man sich für eine Arbeit eigne. Auf diese Weise werden die
Wortgewandten noch besser und die behinderten Mitglieder noch stummer und
dankbarer dafür, daßein anderer die Aufgabe übernommen hat,
z.B. in der Offentlichkeit zu sprechen oder ein Interview zu geben.
Wir müssen endlich einsehen, daß eigene Erfahrung von Behinderung
und das Bewußtsein, einer unterdrückten Minderheit anzugehören,
unerläßliche Voraussetzungen und Qualifikationen für ernsthafte
und erfolgreiche Behindertenpolitik ausmachen.
Ein wichtiger Grund för STIL's bisherigen Erfolg ist, daß wir
in eigener Sache viel überzeugender wirken als die geschicktesten nichtbehinderten
Sprecher. Wir würden unsere Glaubwürdigkeit in Frage stellen,
wenn wir in der Offentlichkeit und anderen Behinderten gegenüber von
unserem Kampf um Selbstbestimmung sprechen und uns dabei von Nichtbehinderten
soufflieren oder gar vertreten ließen. Selbstbestimmung gibt Durchschlagskraft.
Je größer der Anteil nichtbehinderter Menschen in Mitgliedschaft
und Vorstand, desto weniger haben wir selbst etwas in solchen Vereinen zu
sagen, desto stärker ist die Organisation auf Betreuung, Fürsorge
und Wohltätigkeit ausgerichtet. Eine Frauenorganisation mit hauptsächlich
Männern im Vorstand würde niemand ernst nehmen. Schwarze Bürgerrechtsorganisationen,
in denen Schwarze selbst ihre Ziele und Arbeitsweise bestimmen wollen, werden
auch nicht des Rassismus bezichtigt.
Behinderten, die für nichtbehinderte Vorstandsmitglieder und Angestellte
plädieren, fehlt politisches Bewußtsein und Vertrauen an ihre
eigenen Fähigkeiten.
Behinderung ist ein Machtverteilungsproblem, ein
politisches Problem. Aber die Vorstellung, daßwir einer unterdrückten
politischen Minderheit angehören, ist noch recht wenig verbreitet -
am wenigstens bei uns selbst. Der Grund dafür ist, daßBehinderung
in den Augen der meisten ein medizinisches Problem ist. Wir werden nicht
diskriminiert, wir sind ja nur krank. Kranken Leuten kann man doch in einem
Sozialstaat nicht zumuten, z.B. im Berufsleben oder bei der Partnersuche
mit Gesunden zu konkurrieren. Kranke fühlen sich am wohlsten im Grünen,
hinter hohen Mauern, wo sie abgeschirmt vom Alltag nicht ständig vom
Anblick der Gesunden daran erinnert werden, daßsie ein bemitleidenswertes
Leben verbringen müssen. Als Kranke sind wir gewöhnlichen Verpflichtungen
entbunden und können immer mit Verständnis der Umwelt rechnen,
wenn wir z.B. mal zu spät kommen, ein Versprechen nicht halten oder
keine Lust haben, uns zu engagieren, wenn's am Abend "Dallas"
im Fernsehen gibt. Von Kranken wird auch nicht erwartet, daßsie die
Initiative übernehmen und selbst ihre Lage verbessern. Dafür gibt
es ja Ärzte, Beschäftigungstherapeuten, Krankengymnasten, Sozialarbeiter
etc., die die geeignete Ausbildung haben und besser wissen, was wir brauchen.
Da ist es viel bequemer, anderen Leuten, die dafür auch noch bezahlt
werden, die Entscheidungen zu überlassen.
Der erste Schritt zu unserer Emanzipation ist, daß wir uns nicht länger
selbst als Kranke abschreiben, sondern Forderungen an uns stellen.
Nach dem noch allseits verbreiteten medizinischen
Modell der Behinderung müssen wir vorsichtig und behutsam von Menschen,
die sich diesem verantwortungsvollen Beruf geweiht haben, "gepflegt"
und "betreut" werden. Da wir krank sind, kann man uns nicht irgend
jemandem anvertrauen. Die Leute, die uns "versorgen", müssen
besonders för solche schwere Fä1le ausgebildet werden. In den
5 Jahren, die ich im Krankenhaus verbrachte, hat mich keiner mal übers
Wochenende nach Hause eingeladen, weil alle - und vor allem ich selbst -
glaubten, daßnur ein ausgebildeter Krankenpfleger im weißen
Kittel mich ins Bett bringen konnte.
Je kranker der Patient, desto mehr Ausbildung braucht das Pflegepersonal.
Mehr Ausbildung bedeutet im allgemeinen höheren professionellen Status
und Gehalt. Damit gibt es also ein handfestes wirtschaftliches Motiv, uns
als besonders krank hinzustellen. Mehr Ausbildung bedeutet aber auch mehr
Macht. Je mehr professionellen Status und Macht das Personal hat, desto
weniger Macht hat der Patient.
Viele Ambulante Dienste bilden ihre Assistenten aus. Das Kursangebot reicht
je nach Professionalisierungsehrgeiz von Hebe- und Rollstuhltechnik bis
zu Krankheitsprognosen und Psychologie. Manche von uns fordern Spezialausbildung
für ihre Assistenten in der Hoffnung, daßihnen dann ihre Wünsche
von den Lippen abgelesen werden, ohne daßsie selbst den Mund zum Erklären
und Anleiten aufmachen müssen. Auch wenn wir den Bedarf an persönlicher
Assistenz gemeinsam haben, haben wir noch lange nicht die gleichen Behinderungen,
Arbeits- und Familienverhältnisse, Gewohnheiten, Ansprüche, etc.
Eine allgemeine Ausbildung kann nicht auf unsere individuellen Bedürfnisse
eingehen und ist daher im besten Fall wertlos. Im schlimmsten Fall werden
wir in diesen Kursen als Kranke hingestellt, die betreut und gepflegt werden
sollen - also als passive Objekte, was sich nicht mit der Arbeitgeberrolle,
die STIL fordert, vereinbaren läßt.
Man fragt sich, welche Fächer eine solche Ausbildung beinhalten soll.
Meine Assistenten sind mir beim Aufstehen, Waschen, Toilettengehen, im Haushalt,
mit Autofahren, Einkaufen, Reisebegleitung, etc. behilflich. Das sind Tätigkeiten,
die die meisten Erwachsenen beherrschen müßten. Die das nicht
können, stelle ich erst gar nicht an. Ich kenne Leute, die von Ambulanten
Dienst-Assistenten zu hören bekamen: "Ich weiß, was du brauchst
- ich habe einen 6-stündigen Kurs in Behindertenpsychologie gemacht."
Ausbildung wird hier zum Instrument der Unterdrückung.
Wenn jemand Spezialausbildung für seine Assistenten fordert, soll er
nicht klagen, wenn er in seinen eigenen vier Wänden wie ein Patient
behandelt wird und nichts zu sagen hat.
STIL's Anspruch auf Selbsthilfe, Selbstbestimmung
und Eigenverantwortung stellt Forderungen an die einzelnen Mitglieder. Nicht
alle, die sich bisher von Gemeindesozialarbeitern betreuen ließen,
sind dazu bereit, manchem geht STIL zu schnell vor. Bei vielen müssen
zuerst die Schäden langjähriger Anpassung an stationäre und
"ambulante" Pflegeheime, der Selbstbegrenzung und -verachtung
behoben werden, bis sie davon überzeugt sind, daßsie ihr Leben
in die Hand nehmen können. Die Verantwortung für die eigene persönliche
Assistenz erfordert praktische Kenntnisse, Erfahrung und Geschick im Umgang
mit Menschen. Manche fühlen sich zunächst von der Vorstellung
überwältigt, Zeitungsinserate zu formulieren, monatliche Arbeitsschemas
aufzustellen, die Fehler eines Assistenten zu kritisieren oder gar jemanden
zu entlassen.
Pflegeheimverwahrung oder überbeschützende Eltern geben uns selten
die Möglichkeit zu lernen, wie man andere anweist, ohne dabei weder
die eigenen Bedürfnisse zu verleugnen noch zum Tyrannen zu werden.
Mitgliedschaft berechtigt die Projektteilnehmer und andere Mitglieder u.a.
zu Beratung und Ausbildung in diesen Fragen. Wir sind davon überzeugt,
daß nicht unsere Assistenten, sondern wir ausgebildet werden müssen.
STIL bietet daher Kurse an, in denen die praktischen Aspekte der Arbeitgeberrolle
vermittelt und geübt werden. Daneben steht dem Einzelnen das Netzwerk
der anderen Projektteilnehmer zur Verfügung. Mitglieder mit ähnlichen
Problemen schließen sich zusammen und bilden innerhalb des Projekts
kleine Gruppen, in denen sie ihre Probleme diskutieren und sich gegenseitig
Ratschläge geben.
Dieses Prinzip der gegenseitigen Information, Beratung und Ermunterung wollen
wir in Zukunft systematischer einsetzen. Die Independent Living Bewegung
in den Vereinigten Staaten hat dieses Prinzip zu einer eigenen Pädagogik
entwickelt, das sog. peer support ("peer" im Engl. = jemand in
der gleichen Situation, mit dem man sich identifizieren kann). Peer support
geht davon aus, daß wir die besten Experten sind, wenn es um unsere
Bedürfnisse und deren Lösungen geht. Daher können wir am
besten voneinander lernen, Erfahrungen und Einsichten austauschen. Das wichtigste
Element beim peer support ist das Beispiel eines anderen, mit dem ich mich
identifizieren kann. Das Vorbild eines Kollegen gibt einen eindrucksvolleren
und nachhaltigeren Effekt als der Einsatz der besten nichtbehinderten Experten.
Peer support wird von der Independent Living Bewegung auf drei Ebenen eingesetzt:
In Berkeley, Kalifornien, dem Mekka der internationalen Independent Living
Bewegung, hat das World Institute on Disability (WID) eine Ausbildung för
ausländische peer counselling-Lehrer entwickelt. Im Mai und September
1987 führte STIL in Zusammenarbeit mit WID in Stockholm die ersten
Kurse durch. Die Ausbildung soll uns helfen, klarer zu sehen, wo wir den
Hebel zur Veränderung unserer Lage ansetzen müssen, und wie wir
die Kräfte in uns freimachen, die wir zu dieser Arbeit brauchen.
Wir haben lange genug geklagt, ohne daßes uns geholfen hätte.
Jetzt müssen wir einsehen, daßnur wir selbst uns helfen können.
Das STIL-Projekt ist ein Weg, uns mehr persönliche und politische Macht
zu verschaffen.
Adolf Ratzka
Erschienen in A. Mayer, J. Rütter (Hrsg.), Abschied vom
Heim, Erfahrungsberichte aus Ambulanten Diensten und Zentren für Selbstbestimmtes
Leben. München 1988: AG-SPAK-Publ.
Anmerkung
Ein 45 min VHS Videofilm mit dem gleichen Titel ist vom Verfasser zu beziehen.
LiteraturhinweiseRatzka, Adolf, "Schweden - Wunderland der Integration?" in:
Behindernde Hilfe oder Selbstbestimmung der Behinderten, Kongreßbericht
der internationalen Tagung " Leben, Lernen, Arbeiten in der Gemeinschaft",
München 1982, Vereinigung Integrationsförderung e.V. München
1982, S. 56- 64.
Ratzka, Adolf. Independent Living and Attendant
Care in Sweden: A Consumer Perspective, World Rehabilitation Fund Monograph
Nr. 34, World Rehabilitation Fund, New York, 1986.