Die Österreichische Pflegevorsorge

Dokument in Rahmen des ECEPA Projekts. Internet Veröffentlichung URL: www.independentliving.org/docs7/brozek200409a-de.html (In German.)

von Dorothea Brozek, WAG, 2004-09

In English

 

Gesetzliche und finanzielle Grundlage

Das Pflegegeld ist im Bundespflegegeldgesetz aus dem Jahr 1993 geregelt. Es hat folgende Zielsetzung: “Das Pflegegeld hat den Zweck, in Form eines Beitrages pflegebedingte Mehraufwendungen pauschaliert abzugelten, um pflegebedürftigen Personen, soweit wie möglich die notwendige Betreuung und Hilfe zu sichern sowie die Möglichkeit zu verbessern, ein selbstbestimmtes, bedürfnisorientiertes Leben zu führen.“ (§1)

Die finanzielle Verantwortung liegt je nach Anspruchslage entweder beim Bund oder bei den Ländern. Bei gegebenen Voraussetzungen besteht ein Rechtsanspruch auf Pflegegeld. Finanziert wird es einerseits durch Beiträge von ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen zur Sozialversicherung, andererseits durch Steuern.

Im Dezember 2002 haben 356.797 Personen Pflegegeld bezogen, 85% davon Bundespflegegeld und 15% Landespflegegeld.

Anspruchsberechtigung und Bedürfnisse

Für den Bezug des Pflegegelds müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:

  • ein ständiger Betreuungs- und Hilfsbedarf (Pflegebedarf) aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung bzw. einer Sinnesbehinderung, die voraussichtlich mindestens sechs Monate andauern wird
  • der ständige Pflegebedarf muss monatlich durchschnittlich zumindest mehr als 50 Stunden betragen
    Die folgende Tabelle zeigt die Gliederung des Pflegegelds je nach Ausmaß des Pflegebedarfs in sieben Stufen. Die Tabelle zeigt außerdem die Höhe des ausbezahlten Betrags sowie die Zahl der BezieherInnen pro Stufe im Dezember 2002.
Stufe Pflegebedarf in Stunden pro Monat Betrag

BezieherInnen Stand Dez. 02

1 mehr als 50 € 145,50 69.136
2 mehr als 75 € 268,00 126.449
3 mehr als 120 € 413,50 62.634
4 mehr als 180 € 620,30 52.584
5 mehr als 180 und außergewöhnlicher Pflegebedarf € 842,40 29.510
6 mehr als 180 wenn dauernde Beaufsichtigung bzw. gleichzuachtender Pflegeaufwand notwendig ist € 1.148,70 10.093
7 v 180 wenn praktische Bewegungsunfähigkeit oder gleichzuachtender Zustand gegeben

€ 1.531,50

6.391

(Quelle: BMSG o.J.)

Pflegegeld wird nur auf Antrag gewährt. Dieser ist an jene Stelle zu richten, von der bereits eine Rente bezogen wird. Ist dies nicht der Fall, z. B. bei behinderten Kindern, berufstätigen behinderten Frauen und Männern oder SozialhilfebezieherInnen, sind die Länder zuständig.

Der Beurteilung des Pflegegeldanspruchs liegt eine medizinische Orientierung zugrunde. Anhand eines vorgegebenen Rasters beurteilt ein amtlich befugter Arzt bzw. eine Ärztin den Pflegebedarf der AntragstellerInnen. Einzelne Bedürfnissen werden in Zeitaufwand übersetzt, z.B. werden für Aus- und Anziehen pro Tag 2x20 Minuten veranschlagt. Neben der Hilfe am Körper, zu der persönliche Hygiene, Nahrungsaufnahme, Anziehen etc. zählen, gibt es die Kategorie Betreuung, zu der z.B. Einkaufen und Hilfe im Haushalt zählen. Für Hilfe bei der Mobilität werden pauschal zehn Stunden pro Monat veranschlagt. Dem monatlichen Stundenausmaß entsprechend erfolgt die Einstufung im Schema. AntragstellerInnen haben wenig Einfluss auf die Beurteilung durch die ÄrztInnen, sie können ihrem Antrag Gutachten beilegen, für die gilt: je medizinischer desto besser. Gegen den Bescheid, in dem die Einstufung mitgeteilt wird, kann bei Gericht berufen werden. Berufungsverfahren sind für die KlägerInnen im Allgemeinen aufwändig, zeitintensiv und teuer. Da der Schwerpunkt auf körperlicher Pflege liegt, ist es für Personen, deren Unterstützungsbedarf nicht in diesem Bereich liegt wie z.B. Männer und Frauen mit Lernbehinderung, mit psychischen Problemen oder gehörlose Personen, in der Praxis schwierig, zu einer bedarfsgerechten Einstufung zu kommen.

Umfang und Rechenschaftspflicht

Es ist nicht beabsichtigt, dass das Pflegegeld den gesamten Unterstützungsbedarf einzelner Personen abdeckt bzw. dieser mit dem Pflegegeld finanziert werden kann. Ergänzend zur Einführung des Pflegegelds haben sich die Länder verpflichtet, die Sozialen Dienste flächendeckend aus zu bauen und qualitativ zu verbessern.

PflegegeldbezieherInnen müssen keinen Nachweis über die konkrete Verwendung erbringen und daher auch niemandem gegenüber Rechenschaft ablegen. Das Pflegegeld wird 12x im Jahr unabhängig vom Einkommen und von der Ursache der Behinderung direkt an die behinderte Person ausgezahlt.

Beurteilung

Die Beurteilung des österreichischen Pflegegelds muss differenziert erfolgen, es hat eindeutig Vor- und Nachteile. Von Vorteil ist, dass behinderte Personen unabhängig vom Einkommen und von der Ursache ihrer Behinderung direkt Geld erhalten, über das sie ohne Rechenschaftspflicht frei verfügen können.

Die größten Probleme liegen in der medizinischen Ausrichtung bei der Umsetzung des Pflegegelds, wir haben dafür den Begriff „Nachtkastl und Bett“-Mentalität geprägt. Damit ist gemeint, dass das Leben behinderter Menschen auf Nachtkastl und Bett reduziert wird.

Auch die pauschalierte Abgeltung individueller Bedürfnisse ist problematisch. Unserer Erfahrung nach lässt sich Folgendes beobachten: Personen, die Pflegegeld bis Stufe 4 beziehen, können ihren Unterstützungsbedarf, so wie er in der Pflegegeldverordnung definiert ist, in den meisten Fällen gut mit dem Pflegegeld finanzieren. Darüber hinaus gehender Assistenzbedarf, der zu mehr Lebensqualität und gesellschaftlicher Teilhabe führen würde, ist nicht abgedeckt. Für jene Männer und Frauen, die Pflegegeld ab der Stufe 5 beziehen, wird es noch problematischer. Sie benötigen typischerweise mehrmals täglich Assistenz direkt am Körper, und für sie ist es mit dem Pflegegeld nicht einmal möglich, diese Grundbedürfnisse ausreichend abzudecken. Die Studie zur Analyse der Auswirkungen des Pflegevorsorgesystems vergleicht die durchschnittlich aufgewendete Betreuungszeit pro Monat mit den Stundenvorgaben der gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen und bekräftigt unsere Einschätzung: „Die Ergebnisse bestätigen, dass eine Reihe von Pflegegeldbeziehern, insbesondere jene in den höheren Pflegegeldstufen, tatsächlich täglich intensive Betreuung benötigen. Es kommt zu einem deutlichen Auseinanderklaffen zwischen der tatsächlichen geleisteten Hilfe, ..., und jener Hilfe, die im Sinne des Gesetzgebers als objektiv notwendig angesehen wird,“ (Badelt et al. 1997, S. 68). Betroffene sind daher entweder gezwungen, einen Großteil ihrer Assistenz von Angehörigen, denen sie eine Entschädigung zahlen, erledigen zu lassen, oder sie müssen ihren Assistenzbedarf im Rahmen von illegalen Arbeitsverhältnissen abwickeln. Letzteres kann sowohl für AssistenznehmerInnen als auch für AssistentInnen zu existentiellen Bedrohungen führen. Ist keine der genannten Strategien realisierbar, bleibt behinderten Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf in der Regel nur mehr die Übersiedlung in ein Heim mit all den damit verbundenen negativen Konsequenzen.
Die Tatsache, dass die Länder ihrer Verpflichtung nach qualitativem und quantitativem Ausbau der sozialen Dienste für behinderte Menschen nicht nachgekommen sind, macht es behinderten Menschen in manchen Regionen Österreichs von vornherein unmöglich, Assistenz im erforderlichen Ausmaß einzukaufen. In großen Teilen Österreichs gibt es keine Organisationen, die Persönliche Assistenz oder zumindest mobile Betreuung anbieten. Anstelle des Ausbaus solcher Dienste haben bestehende Anbieter nach der Einführung des Pflegegelds ihre Stundensätze enorm erhöht. Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass das Pflegegeld seit 1996 nicht valorisiert wurde, die Anbieter ihre Stundensätze aber regelmäßig erhöhen.

Die Erfahrung zeigt also deutlich, dass das Pflegegeld trotz grundsätzlich positiver Merkmale weder den vielfältigen Bedürfnissen von Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen noch der Zielsetzung nach einer selbstbestimmten und gleichberechtigten Lebensführung behinderter Menschen gerecht wird. Verbesserungen könnten erreicht werden, wenn das Pflegegeld die im Rahmen regulärer Arbeitsverhältnissen für Pflege bzw. Assistenz tatsächlich anfallenden Kosten abdecken würde. Allerdings stellt sich die Frage, ob das Pflegegeld überhaupt eine zufriedenstellende Grundlage für Persönliche Assistenz sein kann. Wir vertreten die Auffassung, dass es für Persönliche Assistenz ein eigenes Gesetz geben sollte. Darin müssten einerseits Konzepte und Begriffe klar definiert sein, andererseits müsste ein solches Gesetz die Finanzierung von regulären Arbeitsverhältnisse für AssistentInnen ebenso wie die Schulung und Unterstützung von AssistenznehmerInnen sicher stellen.

Quellen

BMSG. Pflegestatistik. im Internet:
http://www.bmsg.gv.at/cms/site/attachments/0/2/9/CH0356/CMS1078923314329/pflege.xls
(Stand 16. Aug. 2004), o.J.

Badelt, Christoph; Holzmann-Jenkins, Andrea; Matul, Andreas; Österle, August. Analyse der
Auswirkungen des Pflegevorsorgesystems. Wien: BMAGS, 1997.
http://www.bizeps.or.at/info/pa.html#recht

Identität

Mag. Dorothea Brozek, Geschäftsführerin der Wiener Assistenzgenossenschaft
Assistenznehmerin
Tel: ++43 (0)1 798 53 55
E-mail: d.brozek@wag.or.at