Lange Jahre war eine Pflegeversicherung ein umkämpftes, ein strittiges Thema. Unbenommen war von allen Seiten immer zu hören, daß es nötig sei, das Pflegefallrisiko abzusichern. Es sollte nicht mehr wie früher dazu kommen, daß Menschen durch einen Unfall zum "Sozialfall" würden, daß deren Familien von den Sozialämtern unter Druck gesetzt werden, erhebliche Teile ihres Familieneinkommens zur Versorgung des Pflegebedürftigen auszugeben. Zum Beispiel haben die Sozialämter den Angehörigen eines in einem Heim lebenden Schwerstbehinderten vorgeschrieben, wieviel sie für ihr Auto bei einem Neukauf ausgeben dürfen - damit nicht zuviel des Geldes den Klauen der Ämter abhanden kommt, um für den Heimplatz genommen zu werden. Aber geeinigt haben sich die politischen Matadore nicht. Erst nachdem die sogenannte Kostenexplosion bei den Krankenkassen zu der Befürchtung führte, daß das Krankenkassensystem zusammenbricht - und damit die Versorgung nicht mehr sichergestellt sei - da handelten sie relativ schnell und relativ einig. Sie errichteten die "fünfte Säule" der sozialen Absicherung, die Pflegeversicherung.
Entlastung als Ziel?
Das Ziel dieser Versicherung ist, die Krankenkassen von den Kosten für die Pflege von alten, schwerkranken Menschen zu entlasten und die Pflege aus den teuren Krankenhausbetten herauszulagern in die Familien. Dabei wurde zum ersten Mal ein Grundsatz des Sozialsystems durchbrochen, daß sich die Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Unkosten teilen. Die Pflegeversicherung wird nur von den Arbeitnehmern bezahlt, durch Geld und einen Arbeitstag im Jahr. Und was bietet die Pflegeversicherung? Sie bietet Geldleistungen für die Pflege alter Menschen durch ihre Angehörigen oder Sachleistungen für die Pflege in der Wohnung des Kranken. Diese Leistungen werden nach der Schwere der Pflegebedürftigkeit in drei Pflegestufen und eine Härtefallstufe eingeteilt. In allen Pflegestufen ist die Sachleistung etwa doppelt so hoch wie das Pflegegeld. Die beiden Leistungsarten können auch kombiniert werden. Gespart wird in doppelter Hinsicht. Auf der einen Seite wird durch die Beiträge mehr Geld eingenommen als früher, und auf der anderen Seite sind die Leistungen aus der Pflegeversicherung, wenn man sie mit den früher von den Krankenkassen bezahlten Pflegesätzen vergleicht, etwa um die Hälfte niedriger.
Der Streit bei der Einführung der Pflegeversicherung tobte nicht um die konkreten Inhalte, sondern ausschließlich um die zu zahlenden Summen und die Arbeitszeiten. Daß die Pflegeversicherung auch einen Abschnitt der gesetzlich geregelten Sozialstaatszerstörung einleitet, wurde totgeschwiegen.
Unsoziale Begutachtungspraxis
Nachdem die BeitragszahlerInnen bereits seit Januar '95 zur Kasse gebeten werden, begannen für ca. 1 Mio Pflegebedürftige am 1. April '95 Leistungen aus der Pflegeversicherung für häusliche Pflege zu fließen. Aber über 50% der AntragstellerInnen hatten bis zum Stichtag noch keinen Bescheid. Und mehr als 25% abgelehnte Anträge sprachen schon beim Inkrafttreten der ersten Stufe für eine rigide, unsoziale Begutachtungspraxis. Vor allem Menschen mit Behinderungen und ältere BürgerInnen, die rehabilitative und präventive Hilfe zur Vermeidung außergewöhnlichen Pflegebedarfs benötigen, erhalten keine Unterstützung. Unklarheiten in der Abgrenzung der Leistungen und Zuständigkeiten zwischen den Pflegekassen, den Sozialhilfeträgern und den Krankenkassen führten und führen zu einer Verunsicherung der Betroffenen.
Am 31.03.95 erklärte Petra Bläss, sozialpolitische Sprecherin der PDS Bundestagsgruppe: "Das alles wäre vermeidbar gewesen, wenn den Betroffenenverbänden ein wirkliches Mitwirkungsrecht zugestanden worden wäre. Augenscheinlich verzögerte das Bundesarbeitsministerium Ausführungsbestimmungen mit dem Ziel, Leistungseinschränkungen und Restriktionen durchsetzen zu können." Diese Befürchtungen sind wahr geworden. Wie im Vorfeld erahnt, wurde deutlich, daß die Pflegeversicherung nur für alte Menschen, die im Kreise ihrer Familie gepflegt werden, konzipiert wurde. Das Bild der intakten Familie, die faktisch nicht mehr existiert, wurde als Grundlage des Gesetzes genommen und soll, so einige Vermutungen, durch die konkrete Umsetzung des Gesetzesmachwerks über das Portemonnaie neu erzwungen werden.
Selbstbestimmt leben: Arbeitgebermodell
Jüngere Menschen, die wegen einer Krankheit oder eines Unfalls auf personelle Hilfe angewiesen sind, oder die unabhängig von ihrer Familie leben wollen, sind von der Pflegeversicherung "vergessen" worden.
Eine Betroffene ist Elke B. Sie und ihr Mann haben durch die Pflegeversicherung nur Nachteile erfahren: Elke B. ist seit einem Autounfall vor 19 Jahren querschnittsgelähmt und daher "rund um die Uhr" auf Hilfe angewiesen. Sie erhielt seit der Zivildienstzeitverkürzung 1990 nicht mehr ausreichend Zivildienstleistende von den Wohlfahrtsverbänden. Einziger Rat seitens der Ämter und der Wohlfahrtsverbände war, sich von ihrem Mann zu trennen und in ein Pflegeheim zu ziehen.
So wurde sie 1991 aus der Not heraus Arbeitgeberin ihrer Assistenten. Dieses Modell hat sich in den vergangenen Jahren hervorragend bewährt. Es garantiert ein unabhängiges selbstbestimmtes Leben. Elke B. kann ihre Helfer selbst auf dem freien Arbeitsmarkt anwerben. Sie muß sich nicht Dienstplänen und Möglichkeiten der Anbieter fügen, sondern kann eigenverantwortlich bestimmen, wie sie ihren Alltag gestalten möchte. Die Finanzierung konnte, wenn auch erst durch ein Verwaltungsgerichtsverfahren, dauerhaft gesichert werden. Nun droht eben durch die vielgepriesene Pflegeversicherung das Ende des mühsam erkämpften Modells. Die Sozialämter witterten die Chance, Kosten einzusparen, und stellten zum 31. März 1995 sämtliche Leistungen ein. Dieses geschah trotz des Besitzstandsschutzes, der ausdrücklich festschreibt, daß niemand durch die Pflegeversicherung benachteiligt werden darf. Elke B. z.B. hat seit dem 1. April monatliche Minderleistungen von DM 1.447,-.
Es geht ums Geld
Durch das Pflegeversicherungsmachwerk sinkt die Möglichkeit der Selbständigkeit der Betroffenen, und sie werden vom Gutdünken der MDK (Medizinischer Dienst der Krankenversicherung) -Mitarbeiter abhängig, die über ihre Pflegestufe entscheiden. Es geht ums Geld. Bis zur Einführung der Pflegeversicherung wurde das Modell (Behinderte sind ArbeitgeberInnen ihrer Pflegepersonen) durchs Sozialamt getragen. Nun liegt die Behörde mit der Pflegekasse im Clinch, was zu welchen Teilen finanziert werden soll. "Ein Streit, der auf unseren Rücken ausgetragen wird", spricht Uwe Frevert im Namen vieler Betroffener. In der Pflegestufe zwei hat Frevert Anspruch auf monatlich DM 1.800,- Sachleistung (ambulanter Pflegedienst). Doch der Kasseler bevorzugt das Arbeitgebermodell: "Man ist von vertrauten Personen umgeben. Es entsteht ein freundschaftliches, fast familiäres Verhältnis." Weil das ArbeitgeberInnenmodell aber nicht anerkannt ist, erhält Frevert aus der Pflegekasse statt DM 1.800,- Sachleistung nur DM 800,- bares Pflegegeld. So entsteht für ihn Monat für Monat ein Minus in Höhe von DM 1.000,-.
Nach dem Pflegegesetz haben nur anerkannte Pflegedienste das Recht, mit der Pflegekasse abzurechen und damit den immer so nett bekanntgegebenen Höchstbetrag zu bekommen. Wer also seine PflegerInnen selbst anstellt und selbst die Pflegematerialien einkaufen will, wer also selbstbestimmt leben möchte, der erhält im Schnitt nicht einmal die Hälfte! In Pflegestufe I statt DM 750,- nur DM 400,-; in Stufe II statt DM 1.800,- DM 800,-; und in Stufe III statt DM 2.800,- DM 1300,-. In Bonn wird über einen Gesetzentwurf der Bündnisgrünen beraten, wonach das Arbeitgebermodell dem ambulanten Pflegedienst gleichgestellt werden soll. Sollte dies scheitern, sieht Frevert schwarz: "Womöglich würde das Sozialamt nicht mehr für die Differenz aufkommen. Die Folge wäre, daß ich meine Leute entlassen und auf einen ambulanten Pflegedienst zurückgreifen müßte."
Zerschlagung des Sozialstaates
Aber nicht nur die Finanzmittel für Pflegeleistungen sind betroffen, denn durch das Pflegegesetz werden auch viele Paragraphen aus der Sozialhilfe ausgehebelt. So weist z.B. das Sozialreferat der Stadt München in einem Brief vom Juni 95 auf folgendes hin:
"1.Unangemessene und benachteiligende Verwendung der MDK-Gutachten bei der Bemessung der Hilfe zur Pflege nach § 68 BSHG: Sehr geehrte Frau (...), zu unserem großen Entsetzen und Bedauern stellen wir fest, daß das Sozialamt bereits bei einigen behinderten Kollegen/innen Kürzungen bei den Leistungen für die Hilfe zur Pflege vornimmt bzw. in Kürze vornehmen will, die sich auf das jeweilige medizinische Gutachten des MDK im Zusammenhang mit der Festlegung der Pflegestufe stützen.(...) 1. (...) Die Feststellung des Gesamtbedarfs an Hilfe zur Pflege im Sinne des §68 BSHG ist nicht Aufgabe dieses Gutachtens.(...) 2. die Pflegeversicherung finanziert mit ihren Leistungen nur einen rudimentären Teil derjenigen praktischen Hilfestellungen, die im täglichen Leben eines behinderten Menschen individuell benötigt werden.(...) Die Gewährung von Pauschalbeträgen für Hilfen zur Eingliederung darf nicht so ausfallen, daß die Entlohnung unserer Mitarbeiter/innen real gesenkt wird. Der bei Festanstellung ohnehin geringe Verdienst von ca. DM 11,20 - 12,00 netto darf auf keinen Fall verringert werden, zahlreiche Kündigungen von Helfer/innen wären die Folge. Wir ersuchen Sie dringend, diese Gesichtspunkte bei Ihrem weiteren Vorgehen zu berücksichtigen." (Hervorhebungen durch den Autor.)
Menschlich bis unmenschlich
Aber nicht nur eine "Absenkung der Kosten" zu Lasten der betroffenen Menschen ist in der Pflegeversicherung angelegt, sondern auch eine Entmenschlichung der Pflege. So sind folgende - zur Bewältigung des Alltags notwendige - Leistungen von der Pflegeversicherung nicht erfaßt und damit nicht finanziert:
Pflegepersonal und zu Pflegende - mit- oder gegeneinander?
Vor Inkrafttreten der Pflegeversicherung hatten Behinderte Anspruch auf Pflegegeld nach dem Bundessozialhilfegesetz in Höhe von monatlich DM 1.000.-. Weitergezahlt wird jetzt nur noch, wenn die Betroffenen nach dem neuen Gesetz vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen in eine der drei neuen Pflegestufen eingestuft worden sind. Wenn nicht, wird die Zahlung verweigert. Es klang zuerst für viele so, als ob solches im neuen Gesetz durch den sogenannten Besitzstandsschutz verhindert werden sollte. Die Realität sieht anders aus. Das Kreissozialamt in Tauberbischofsheim beispielsweise verweigert die Zahlung und beruft sich auf Gerichtsurteile. Es werde nur noch gezahlt, wenn die Betroffenen auch "Anspruch auf den Besitzstandsschutz" hätten. Und diesen Anspruch verlierten sie, wenn sie nicht unter eine der drei Pflegestufen fallen. Um z.B. in die Pflegestufe I zu kommen, ist vom MDK anzuerkennen, daß die Person pro Tag mindestens 1,5 Std Hilfe benötigt, von denen aber mehr als die Hälfte, also mindestens 46 min., im Bereich "Pflege" sein müssen und der Rest sich auf den Bereich Haushaltshilfe erstrecken kann. Diejenigen, bei denen weniger als diese 46 min. Pflege nötig sind, gehen leer aus!
Deshalb hat der ISL (Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben Deutschland) die Bundestagsabgeordneten aufgefordert, fraktionsübergreifend dafür einzutreten, daß die schlimmsten Mängel der Pflegeversicherung ausgeräumt werden.
Pflegeversicherung - DM 1.500,- weniger im Monat
"Die ersten Erfahrungen von vielen behinderten Menschen mit der Pflegeversicherung zeigen, daß diese im Hinblick auf ihre inhaltliche Ausgestaltung eine Vielzahl von Problemen für behinderte Menschen aufwirft, durch die diese zum Teil erheblich schlechter gestellt und deren Selbstbestimmung im Vergleich zu den Leistungen vor der Einführung der Pflegeversicherung erheblich eingeschränkt werden. Unter vielen Betroffenen macht sich daher eine immer größere Resignation breit, da sie viele Hoffnungen in die Pflegeversicherung gesetzt haben, die nun nicht erfüllt werden", erklärte Uwe Frehse, sozialpolitischer Sprecher der ISL e.V.
Insbesondere müßten diejenigen behinderten Menschen, die ihre Pflege selbst organisieren, zum Teil finanzielle Einbußen von bis zu DM 1.500,- pro Monat in Kauf nehmen, wenn sie ihre Selbstbestimmung beibehalten wollen. "Die menschenwürdige Sicherstellung unserer Pflege ist uns zu wichtig, als daß wir sie uns von denjenigen, die in der Regel keine Ahnung davon haben, was es bedeutet, tagtäglich Unterstützungen in Anspruch nehmen zu müssen und die Pflege lediglich aus bürokratischer Sicht betrachten, verschlechtern zu lassen".
Die Mindestanforderungen an die Reform der Pflegeversicherung sind:
Die Lüge der guten Tat
Um den Kritikern zu trotzen, will der Bundesrat tatsächlich das Gesetz verbessern, vor allem die Besitzstandswahrung. So soll sichergestellt werden, daß die Sozialhilfeträger weiterhin die Differenzen zwischen den Leistungen der Pflegeversicherung und den vorherigen Leistungen des Sozialhilferechts erbringen. Das Vorhaben würde in erster Linie Rollstuhlfahrern und Beziehern des Pflegegeldes der Sozialhilfe zugute kommen. Aber was heißt das konkret? Die über die Sozialkürzungen Betroffenen werden mit Sonderleistungen (Besitzstandswahrung) abgefüttert, und diejenigen, die später Hilfe brauchen, werden nur den Satz bekommen, der schon heute zu niedrig ist, also deutlich weniger als die momentan Betroffenen. So wird die Absenkung des sozialen Standards eingeführt.
Pflegeversicherung für Heime ab dem 01.07. 1996
Für den Heimbereich wurden dieselben Richtlinien wie im ambulanten Bereich übernommen. Außerdem entscheidet der MDK, ob die Person in ein Heim darf. Bei Ablehnung zahlt die Pflegeversicherung keinen Pfennig für einen Heimplatz, dann muß die betreffende Person alles aus eigener Tasche zahlen. Aber auch wenn der MDK sein Ja-Wort gibt, so verändert sich doch einiges für die Heime und für die HeimbewohnerInnen. Einige Leistungen sind nun nicht mehr abrechenbar. Dazu gehören "Maßnahmen zur Förderung der Kommunikation" ebenso wie die oben erwähnten nicht mehr bezahlten Leistungen. Schwerer wiegen die gegenläufigen Bestimmungen in der Gesetzeslandschaft:
Auf der einen Seite Fachpersonal einzustellen und auf der anderen Seite weniger einzunehmen, bedeutet, Personal zu entlassen. Damit wird der Arbeitsdruck in den Heimen erhöht, der Streß wird zunehmen und für die HeimbewohnerInnen werden schlechtere Zeiten anbrechen. Fazit
Die Pflegeversicherung ist ein massiver Umverteilungsprozeß der Kosten von oben nach unten und die Aufkündigung des sozialen Nachkriegsmodells, um im "schlanken Staat" Gelder für militärische Expansionen à la Ex-Jugoslawien freizuschaufeln. Verkauft wird die Pflegeversicherung aber mit einer angeblichen besseren "sozialen Absicherung". Statt dieser Pflegeversicherung bräuchten wir eine Sicherung der Pflege. Die Pflegebedürftigen müssen finanziell selbstbestimmt entscheiden können, wie ihr Tagesrhythmus aussieht. Protest und Widerstand gegen die Umsetzung der Pflegeversicherung tut Not. Unterstützen wir die vorhandenen Initiativen! Bekämpfen wir die Politiker und ihre menschenverachtende "Sozialpolitik"! Fördern wir selbstverwaltete, freie Pflegeeinrichtungen und -dienste!