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(Personal Assistance in Sweden, keynote presentation at the
Panel Discussion on Personal Assistance
in Würzburg, Germany on November 20, 2002)
Dr. Adolf Ratzka
Independent Living Institute
www.independentliving.org
www.independentliving.org/ratzka.html
Zu meiner Person
Ich komme ursprünglich aus Bayern, bekam im Alter von 17 Jahren Polio,
verbrachte 5 Jahre in Krankenhäusern aus Mangel an rollstuhlgerechten Wohnungen
und praktischen Hilfen im Alltag. 1966, im Alter von 22 Jahren, bekam ich die
Möglichkeit direkt vom Krankenhaus In München in ein Studentenwohnheim
iin Los Angeles zu ziehen um dort zu studieren. Mit elektrischem Rollstuhl und
Beatmungsgerät, ohne Familie oder Bekannte im neuen Land.
Durch eine Sonderlösung bezahlte mir der bayrische Staat über das deutsche Konsulat alle meine Kosten inclusive meine Hilfsmittel, die ich mir selbst nach meinem eigenen Urteil aussuchte und anpassen liess. Vor allem aber hatte ich Geld für ausreichende persönliche Assistenz. Mit dem Geld bezahlte ich Mitstudenten als Assistenten, die ich selbst anstellte und anlernte. Ich war der Chef.
Verglichen mit dem Patientendasein im Krankenhaus führte diese Lösung eine Reihe von für mich umwälzenden Veränderungen mit sich:
Es gab keine Leute in weissen Uniformen und pflegerischen Berufen mehr, die meinen Tagesablauf bestimmten und über mich verfügten. Niemand, der mich "betreute" und "versorgte". Ich war nicht mehr Patient sondern Arbeitgeber. Nicht mehr Objekt, sondern Subjekt. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich die reellen Voraussetzungen, die volle Verantowrtung für mein Leben zu übernehmen, wie andere Gleichaltrige auch. Diese Erfahrung hat meine persönliche Entwicklung und meine spätere Arbeit stark geprägt.
1973 kam ich nach Schweden, um Material für meine Doktorarbeit zu sammeln. In den folgenden Jahren arbeitete ich in Stockholm als Forscher mit Fragen des Universal Designs im Wohnungsbau und dem Abbau von Einrichtungen. In den 80er Jahren importierte ich die internationale Independent Living- Bewegung - Selbstbestimmt Leben - nach Schweden und gründete die Stockholmer Genossenschaft für Independent Living, STIL, die erste europäische persönliche Assistenzgenossenschaft, deren Arbeit als Modell für die schwedische Assistenzreform von 1994 diente. Seit 1994 bin ich Chef des Instituts für Independent Living, in dem wir versuchen die Behindertenpolitik in Schweden und in Europa durch Pilotprojekte voranzutreiben. Dass ich übrigens jetzt nach bald 30 Jahren immer noch in Schweden wohne und arbeite hat unter anderem mit dem Thema des heutigen Abends zu tun.
Nationale Vergleiche sind gefährlich
Um es vorwegzunehmen, Schweden ist kein Paradies weder für nicht-behinderte
noch für behinderte Menschen. In allen Vergleichen mit der restlichen Bevölkerung
schneiden wir Behinderte schlechter ab: ob Ausbildung, Arbeit, Wohnen, Einkommen,
Freizeitmöglichkeiten, soziale Kontakte, Teilnahme am öffentlichen
Leben, Familien bildung, psychisches Wohlbefinden - laut offizieller Statistik
sind wir schlechter daran als die Durchschnittsbevölkerung.
Ich kann in Stockholm, wo ich wohne, immer noch keinen Bus benutzen; die überwältigende Mehrzahl der Geschäfte, Restaurants, Arbeitsplätze ist nicht für alle gebaut. Noch immer sieht man kaum Menschen mit Behinderungen in hohen Ämtern, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur oder Medien.
Dass es dabei Menschen mit Behinderungen in Schweden besser geht als in vielen anderen Ländern ist für uns in Schweden uninteressant. Sollten wir uns denn mit unserem jetzigen Zweiter-Klasse Status zufriedengeben, nur weil es uns immer noch besser geht als Menschen mit Behinderungen in Uganda? Wir leben hier und jetzt und der einzig relevante Vergleich ist der mit den Lebensbedingungen und Möglichkeiten unserer nicht-behinderten Geschwister, Nachbarn und Freunde. In diesem Vergleich schneiden wir erbärmlich ab. In Schweden und anderswo.
Die schwedische Assistenzreform von 1994
Aber jetzt zum Thema des heutigen Abends, der persönlichen Assistenz. Ich
beschreibe das schwedische System an hand meiner eigenen Situation.
Ich habe im Durchschnitt 18 Stunden Assistenz pro Tag. Das wurde in einem Gepräch zwischen mir und der Sachbearbeiterin am örtlichen Büro der staatlichen Sozialversicherung festgestellt. Ich schlug die Stundenanzahl vor und beschrieb, wie ich dazu kam. Ein allgemeines ärztliches Attest, das Ursache und Ausmass meiner Behinderung erwähnt, hatte ich dabei. Die medizinischen Aspekte haben jedoch eine untergeordnete Rolle, denn laut Gesetz bestimmt die ganze Lebenssituation den Assistenzbedarf. Es gibt keine obere Grenze für den täglichen Stundenbedarf. Ich kenne Kollegen, die 27 Std Assistenz am Tag bewillgt haben, weil sie manchmal 2 Assistenten gleichzeitig brauchen.
Ich bin verheiratet, unsere Tochter ist jetzt 8 Jahre alt. Meine Frau und ich sind berufstätig. Laut Gesetzt solll mir meine Assistenz die in der schwedischen Gesellschaft übliche Arbeitsteilung zwischen den Ehepartnern ermöglichen. Ich kann also meine Assistenten dazu einsetzen, mir beim Von-Der-Schule-Abholen, beim Einkaufen, Kochen, Putzen, etc zu helfen. Einfache Arbeiten oder Reparaturen am Haus und im Garten lasse ich auch von ihnen machen - also alles, was ich selbst erledigen würde, wenn ich nicht behindert wäre.
Am Arbeitsplatz helfen mir die Assistenten meine Papiere in Ordnung zu halten, zu fotokopieren, abzuheften, Sachen auf die Post zu bringen, mich bei Terminen zu begleiten und mich gegebenenfalls hinzufahren, falls ich nicht selbst mein angepasstes Auto fahre. Eine der wichtigsten Funktionen meiner Assistenten ist die Reisebegleitung. Als Chef des Instituts für Independent Living bin ich oft unterwegs - ich hatte Jahre mit über 100 Reisetagen. Da meine Frau ihren eigenen Beruf hat, verreisen wir nur im Urlaub zusammen und auch da nehme ich einen Reiseassistenten mit, damit wir möglichst die gleiche Unabhängigkeit wie andere Familien haben können. Für die Reisekosten des Assistenten habe ich ein Budget für Flugtickets, Hotelzimmer, Mahlzeiten, Eintrittskarten, etc.
Ich habe z Z etwa 12 Assistenten - meine Frau ist übrigens auch dabei, denn es kommt manchmal vor, dass ich nachts etwas brauche und da finden wir es beide besser, wenn sie mir hilft als dass ein Assistent im Gästezimmer schläft, den ich bei Bedarf wecke. 5 Assistenten arbeiten nach einem Wochenschema, die restlichen habe ich als Reserve.
Der Arbeitgeber meiner Assistenten ist die von mir in den 80er Jahren gegründete Genossenschaft STIL. Wir sind z Z 250 Mitlgieder. Darunter sind Kinder, Menschen mit geistigen Behinderungen, ältere Leute - gemeinsam ist nur der Bedarf von persönlicher Assistenz. Zusammen beschäftigen wir über 1000 Assistenten. Laut Satzung dürfen nur Menschen mit Bedarf von persönicher Assistenz im Vorstand der Genossenschaft sitzen. Der Geschäftsführer und ein grosser Teil der Büroangestellten - vor allem die sogenannten Peer Support Mitarbeiter - sind behindert und meist selbst auf persönliche Assistenz angewiesen. Die Genossenschaft wird vom mir beauftragt, die Gehälter meiner Assistenten auszubezahlen, andere damit verbundene Verwaltungsarbeiten zu übernehmen und meine Interessen gegenüber der Sozialversicherung - auch rechtlich wenn nötig - zu verteidigen. Die Genossenschaft hat jedoch nichts mit der Beschaffung von Assistenten zu tun: wir haben keine gemeinsamme Asssistenten, jedes Mitglied muss sich selbst seine Leute suchen. Nur so kann man die grösstmögliche Selbstbestimmng der einzelnen Mitglieder stärken. Aber die Genossenschaft hilft neuen und alten Mitgliedern in ihren Aufgaben durch Kurse und Peer Support - also gegenseitiges Lernen und Unterstützen durch Gleichgestellte.
Die Mitglieder bekommen ihre Gelder für die Assistenzkosten monatlich von der Sozialversicherung. Jedes Jahr im Dezember setzt die Regierung die Höhe des Stundensatzes für das darauffolgende Jahr fest. Für 2002 beträgt er ungefähr € 21. Ich bekomme also einen monatlichen Betrag von 18 Std x 31 Tagen x € 21. Damit bezahle ich die direkten und indirekten Lohnkosten meiner Assistenten und die Verwaltungskosten der Genossenschaft. Was übrigbleibt kann ich für die Reisekosten meiner Assistenten benutzen.
Diese Gelder werden an mich ausgezahlt. Jedes Monat muss ich nachweisen, wieviele Stunden meine Assistenten gearbeitet haben. Ungenutzte Beträge werden verrechnet. Die Beträge sollen meinen Assistenzbedarf in vollem Umfang decken - nicht nur einen Teil. Ausserdem ist die Höhe der Beträge unabhängig vom Einkommen. Auch wenn ich oder meine Frau, Grossmutter oder Urenkel mehrfacher Euromillionär wäre.
Mit dem Geld könnte ich auch Dienstleistungen von anderen Trägern kaufen, z.B. der Stadt Stockholm, die mir ihre Angestellten nach Art der städtischen Ambulanten Dienste ins Haus schicken würde. Eine Menge privater Firmen und andere Genossenschaften, die STIL als Vorbild haben, bieten ähnliche Dienste an. Ausserdem gibt es die Möglichkeit, selbst Arbeitgeber seiner Assistenten zu sein. All diese Lösungen und ihre Kombinationen sind zugelassen. Damit sollen Vielfalt, Wahlmöglichkeit und Konkurrenz gefördert werden.
Es gibt z Z über 9 000 Menschen, die diese Gelder beziehen - also ein Promille der Bevölkerung von 9 Mill. Voraussetzung dafür ist ein Bedarf von mindestens 20 Std in der Woche für Assistenz mit den grundlegenden Bedürfnissen des täglichen Lebens, also beim Essen, Ankleiden, bei der Körperhygiene und beim Sich-Verständingen sprechbehinderter Menschen. Aus staatsfinanziellen Gründen wurde das Höchstalter auf 65 Jahre begrenzt - ein Mindestalter gibt es nicht. Ohne Altersgrenze wäre die Zahl der Berechtigten natürlich mindestens 20 mal so gross. Zwar kann man die Gelder nach dem 65. Geburtstag weiterbeziehen, aber jemand der erst nach dem 65. Geburtstag behindert wird, kann nicht diesem exklusiven Club beitreten.
Menschen, die weniger als 20 Stunden für grundlegende Bedürfnisse benötigen oder älter als 65 Jahre sind, bekommen ihre praktischen Hilfen im Alltag von den Gemeinden, die dafür zuständig sind. Die Gemeinden können dabei entscheiden, ob sie dieser Vewrantwortung in Form von Geld- oder Sachleistungen nachkommen.
Der Unterschied in der Lebensqualität, die die staatliche Reform und die Gemeinden ermöglichen, ist gewaltig. Laut Gesetz sind die Gemeinden nur angehalten, eine "angemessene" Lebensqualität zu unterstützen. Sie sind nicht für Sach- oder Geldleistungen ausserhalb der Gemeindegrenzen verantwortlich. Die staatlichen Sozialversicheringsgelder sind dagegen exportierbar. Ich bezog z. B. meine Gelder während eines 11-monatlichen Sabbaticals an der Universität von Costa Rica. Ausserdem sollen die Sozialversicherungsgelder, laut Gesetz, eine "gute" Lebensqualität ermöglichen, was mehr Stunden bedeutet.
Ohne die staatliche Assistenzreform hätten meine Frau und ich mit dem Heiraten gezögert, weil die damaligen ambulanten Dienste zu schlecht waren, um eine ebenbürtige, sich gegenseitig unterstützende Partnerschaft zu ermöglichen, die beiden Teilen genügend Freiraum lässt, sich in seine eigene Richtung zu entwickeln. Wir hätten sicherlich kein Kind gehabt, weil alle Arbeit mit Kind und Haushalt - und zum Teil mit mir - an meiner Frau hängengeblieben wäre und weil ich in meiner Vaterrolle zu sehr eingeschränkt gewesen wäre. Mit den ambulanten Gemeindediensten hätte ich kaum meine jetzige Arbeit, könnte nicht ohne meine Frau verreisen oder im Ausland arbeiten.
Welche Schlusssätze kann man aus dieser Beschreibung ziehen?
Um Menschen ein Dasein im Heim zu ersparen sind ausreichend barrierenfreie Wohnungen und ausreichende Assistenz erforderlich. In Schweden gibt es seit einigen Jahrzehnten keine Wohnheime für Köperbehinderte mehr. Seit 1978 müssen laut schwedischen Baunormen alle Mehrfamilienhäuser mit mehr als 2 Stockwerken barrierenfrei gebaut werden, so dass alle Wohnungen in allen Stockwerken mittels geräumiger Aufzüge erreichbar sind, ohne Stufen oder Schwellen mit mehr als 3 cm Höhe zwischen Bürgersteig und Wohnungstüre, mit geräumigen Badezimmern und Küchen. Auf diese Weise beläuft sich der Anteil der barrierenfreien Wohnungen im gesamtenn Wohnungsbestand auf meiner Schätzung nach 8 % in Stockholm.
Auch Menschen mit geistigen Behinderungen wohnen heute entweder allein oder in kleineren sogenannten Gruppenwohnungen mit ungefähr 6 Personen pro Wohnung plus Personal. Die Reform von 1994 gibt dem Einzelnen das gesetzlich garantierte Recht - das allerdings von den Gemeinden manchmal nicht respektiert wird - auf Wohnen in der Gesellschaft.
Es gibt heute kaum jemanden in Schweden, der die Rückkehr der Einrichtungen fordern würde. Ein Grund dafür ist vermutlich, dass Schweden - im Gegensatz zu Deutschland - keine Wohlfahrtsindustrie hat - also private Träger mit starker Lobby und guten politischen Kontakten, die schon immer Heime betrieben haben, deren Organisationsstruktur nur langsamme und geringe Veränderungen erlaubt und die wenig wirtschaftliches Interesse daran haben, in ihrer Öffentlichkeitsarbeit Menschen mit Behinderungen als fähige Bürger darzustellen, die voll im Stande sind, in der Gesellschaft, wie andere Menschen, selbstbestimmt zu leben und zu arbeiten.
Schweden ist ein Land mit grossen wirtschaftlichen Problemen, die auf eine überaltete Bevölkerung und auf Abhängigkeit von einigen wenigen konjunkturempfindlichen Industriezweigen zurückzuführen sind. Jedesmal wenn ich in Deutschland bin, fällt mir der höhere materielle Wohlstand hier auf, komme ich mir vor wie der arme Vetter vom Lande. Laut Statistik hat Schweden z. B. die ältesten Autos in der EU. Gemessen an der Kaufkraft des Durchschnittsbürgers befindet sich Schweden an 17. Stelle in der Welt, weit hinter Deutschland.
Das schwedische Beispiel zeigt, dass ein Land nicht reich sein muss, um seinen
behinderten Bürgern einigermassen ausreichende persönliche Assistenz
zu ermöglichen: Die Kosten der schwedischen staatlichen Assistenzreform
betragen z Z rund eine halbe Milliarde Euros pro Jahr. Das sind umgerechnet
€ 50 pro Einwohner und Jahr. Wäre das zuviel für Deutschland,
Europas grösster Wirtschaftsmacht?